Was sind grundlegende Bedingungen von Frieden? Für das Leben in Staaten wissen wir das im Grunde. Platon und die Bibel nennen es „Gerechtigkeit“, aber das klärt nicht viel, wenn man nicht sagen kann, wie diese „Gerechtigkeit“ funktionieren soll.
Vielleicht hilft ein provisorischer Versuch12:
So weit die Regeln im Staat. Aber wie steht es mit Regeln für die Verhältnisse zwischen den Staaten? Da fehlt ja nicht nur die letztlich übergreifende Instanz, die im Zweifel mit Gewalt den Frieden durchsetzt. Da gibt es vor allem keine gegenseitige Anerkennung der verschiedenen Prägungen, Interessen und Ziele. Das ist ja auch zu verstehen, wenn man die Unterschiede weit auseinander liegender Kulturen betrachtet. Nur: Das ändert nichts an der Aufgabe, miteinander – also unterschiedliche Staaten, Kulturen etc. – in Frieden leben zu müssen. Dieses Ziel hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg die UNO gestellt. Sie anerkannt die Gleichheit der Staaten und will, dass die Mitgliedsstaaten ihre Konflikte friedlich unter ihrem Dach lösen. Der Einsatz von Militär durch die Staaten ist nur zur Selbstverteidigung erlaubt.
Wir wissen alle, dass der bloße Wunsch allein diese Organisation noch nicht zu einem durchgreifenden Erfolg verholfen hat. Aber die Idee war in der Welt: Konflikte friedlich nach den Regeln eines Rechts zu lösen. Und diese Idee ist nicht nur nicht wieder aus der Welt zu kriegen, sie verlangt auch immer wieder nach Bestätigung, nach Durchsetzung.
Aber die Sache ist noch einen Dreh komplizierter: Seit dem Ausgang der Neuzeit wird nach „nationaler Selbstbestimmung“ verlangt: Die Nation hat ihren eigenen Staat, der nur ihr gehört. Die Landkarte eines Kontinents sähe dann wie ein wildbunter Flickenteppich aus: Jede Nation ihr eigener Flicken, jeder Flicken vom anderen klar abgegrenzt.
In Wirklichkeit fallen in weiten Teilen Europas die Grenzen von Nationen und Staaten nicht zusammen. In vielen Staaten leben Angehörige der führenden Nationen von Nachbarstaaten als Minderheiten, manche Minderheit sieht sich als eigene Nation, die aber von der vorherrschenden Nation bestenfalls als Untergruppe anerkannt wird. Heutige Staaten entstanden oft aus dynastischen Politiken vergangener Herrscherhäuser, manche formten diese Staaten zu Nationen, auch mit Gewalt, manche Nationen entstanden gegen diese Herrscher.
Also ein gesamteuropäisches Kuddelmuddel. Wenn über weite Strecken Nation und Staat nicht identisch sind, dann müssen andere Formen der politischen Institutionalisierung gesucht werden. Etwa: Der Staat als gemeinsames Dach der unter ihm lebenden Ethnien, Verbände der Ethnien über die Staatsgrenzen hinaus, regionale Kooperationen über Staatsgrenzen hinweg. – Lässt sich so allgemein ganz einfach sagen.
Was den gegenwärtigen Krieg angeht, stehen stehen sich im Westen zwei Deutungen gegenüber, so Johannes Varwick13:
Die beiden Sichtweisen sind, dass erstens nach russischem Drehbuch die Staatlichkeit der Ukraine vernichtet werden sollte als Ausgangspunkt für eine neue Landkarte Europas, inklusive Rückkehr des Baltikums in die ehemalige Sowjetunion. Mit diesem Russland konnte es gewissermaßen nur Krieg geben und jede Verhandlung, jeder Interessenausgleich wäre vergebens. Diese Sichtweise vertritt die Mehrheit der Osteuropaforscher. Die andere Sichtweise – und die halte ich für genauso legitim – ist, dass wir zweitens den Versuch hätten machen müssen, mit diesem unangenehmen Russland über einen Interessenausgleich zu reden. Wenn es Russland mithin nicht in erster Linie darum ging, die Ukraine dem russischen Imperium einzuverleiben, sondern darum, kein feindliches Militärbündnis wie die Nato an seiner Grenze stehen zu haben, dann wäre ein Interessenausgleich möglich gewesen. Aber der Westen hat die ukrainische Strategie voll übernommen und wollte sie ins westliche Bündnis ziehen. Wir wussten, dass das fast eine Kriegserklärung an Russland ist. Das haben wir nicht verstanden oder besser gesagt: Wir wollten es nicht verstehen.
Für die erste Sicht wird in der Literatur der Osteuropawissenschaftler der Ausdruck „Imperialismus“ verwendet. Damit ist nicht ein Imperialismus des Kapitalexports gemeint, der den engen heimischen Markt erweitern soll. Sondern es geht um die Fortsetzung des russischen Zarenreichs: Ohne geografischen Schutz gegen Feinde und ohne geografische Begrenzung dehnten sich das Großfürstentum Moskau und das russische Kaiserreich nach allen Seiten aus, um Feinde so weit wie möglich fern zu halten, gliederten sich dabei große Landstriche im Osten und Süden an und – vor allem – siegten in der Konkurrenz mit Polen/Litauen um die Vorherrschaft in Osteuropa. Dieser russische Imperialismus unterschied sich vom Imperialismus der anderen europäischen Staaten in seiner kontinentalen Landmasse, während die anderen Imperien erst über die Weltmeere zu ihren Kolonien mussten.
Die Sowjetunion baute 1922 auf diesem Reich auf, wenn sie auch im Westen polnische Gebiete, das Baltikum und Finnland verlor. Nach eigenem Anspruch war die Sowjetunion gerade nicht die Fortsetzung des zaristisch-russischen Imperialismus, sondern „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker, vereinigt euch!“14 und zwar auch und gerade in der Sowjetunion15. Diese andere Sicht auf den Kolonialismus in der jungen Sowjetunion sei aber im Lauf der Geschichte verloren gegangen, die UdSSR sei letztlich nicht nur genau so imperialistische wie Groß-Britannien, Frankreich und andere Staaten, sondern – schlimmer noch – die einzig übrig gebliebene Kolonialmmacht. Die anderen Imperien seien entkolonisiert, also keine Imperien mehr, währen Russland sich unter Putin zum überkommenen Imperialismus zurück entwickelt habe.
Eine Einrichtung der US-Regierung fordert deshalb „decolonize russia“16, ein „Forum der freien Völker Post-Russlands“ arbeitet schon an einer Landkarte und ein Manifest17.
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Solche Karten könnten die Illusion verbreiten, es gäbe abgeschlossene Siedlungsgebiete der verschiedenen Ethnien, um die man einfach nur Grenzen ziehen müsste. Es dürfte viel eher so sein, dass in den meisten Gebieten die verschiedenen Ethnien durcheinander leben, mit Schwerpunkten bei jenen, die schon lange dort wohnen. Diese Ethnien können durch ihre Geschichte, ihre Sprache und ihre Religion getrennt sein. Aber auch diese Ethnien sind keine festen Einheiten, einzelne Menschen und ganze Gruppen wechseln ihre Zugehörigkeit. In manchen Gegenden sind die Menschen loyal zu ihrer Ethnie, in anderen sind sie, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit, dem Staat gegenüber loyal. Ein deutsch sprechender Schweizer ist kein Deutscher, sondern ein Schweizer wie sein räthoromanischer Mitbürger, dessen Sprache er nicht versteht.
Es gibt keine Möglichkeit der sauberen Unterscheidung. Genau das macht solch ein Staatsbildungskonzept gefährlich: Es kann nur mit groben und ungerechten Vereinfachungen realisiert werden, Gewalt eingeschlossen.
Solche Konzepte sind Handgranaten.
Einmal begonnen, könnte das Konzept auch von anderen Minderheiten übernommen werden, zb der indigenen Bevölkerung der USA18. Die Folgen mag man sich nicht vorstellen: Alle Weißen zurück nach Europa?
Daraus ergeben sich (Wissens-, Verständnis-)Fragen:
Die zweite Sichtweise, die Varwick heranzieht, meint die gesamteuropäische Sicherheit. Während das Imperialismus nur einen Bären sieht, der seine Nachbarn fressen will, denen deshalb zur Hilfe geeilt werden muss, sieht dieses Konzept auf die Gesamtheit aller europäischer Staaten (und darüber hinaus auf die USA und Kanada). In welchem Verhältnis stehen diese Staaten zueinander?
Charta von Paris
Wenn es um Frieden im Europa der Zeit nach dem Kalten Krieg geht, dann wird der Anfang von den beteiligten europäischen Staaten mit der Charta von Paris19 gesetzt. Dieses Dokument wurde am 21. November 1990 von den Mitgliedsstaaten der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, also allen damals existierenden Staaten in Europa, den USA und Kanada unterzeichnet20. Mit ihm sollten die Grundlagen für ein Europa der Gemeinsamen Sicherheit gelegt werden, für die Staaten des Westens, des Ostens und die neutralen Staaten. Später entstandene Staaten sind in den Text eingetreten. Aber in unserer Öffentlichkeit ist dieser Text damals erst übersehen, dann fast vergessen worden.
Dieses Dokument klärt die Grundlagen eines gemeinsamen Friedens auf der Grundlage von drei Axiomen:
Dies alles mag manchem nicht „links“ genug sein, Marktwirtschaft ist doch Kapitalismus etc. ... Mag alles richtig sein, aber die Demokratie, wie wir sie kennen, ist der beste bislang bekannte Schutz vor Gewalt und Krieg im Inneren eines Staates. Mehr haben wir nicht, damit müssen wir auch den Frieden zwischen den Staaten gestalten.
Unser westeuropäisches Konzept von Demokratie wird aber auf einen Nationalstaat bezogen: Die Angehörigen dieses Staates stammen voneinander ab, jedenfalls nach ihrer Selbsteinschätzung, benutzen dieselbe Hoch-Sprache, haben oft dieselbe Religion.
Deshalb ist bei uns der Minderheitenschutz, der in der Charta mehrmals erwähnt wird, von besonderer Bedeutung: Die Charta hat hier, wie es scheint, das Ende des Ersten Weltkriegs im Blick: Jede Nation, jedes Volk sollte damals (mit dem US-Präsidenten Wilson) ihren/seinen eigenen Staat haben. Jedoch: Weil (nicht nur) im Südosten und im Osten Mitteleuropas die Völker durcheinander wohnen, waren Mord und Totschlag die Folge, jedenfalls dann, wenn nationalistische Politik sich einmischte21. Nation, Volk und Staat können dort nicht identisch gemacht werden. Es gibt nur die Möglichkeit, die verschiedenen Ethnien, Minderheiten, kulturell, sprachlich, religiös gemeinsam unter einem staatlichen Dach leben zu lassen.
Vollständig hat die Charta das Problem jedoch nicht gelöst: Sie kennt immer noch die Unterscheidung zwischen der einen Nation, die Eigentümerin des Staates ist, und den Minderheiten; sie versucht die Schwäche dieser Ungleichgewichtigkeit(en) jedoch durch die Verankerung der Minderheitenrechte in den individuellen Grundrechten abzumildern22.
Die Staaten verpflichtet sich in der Charta, nach neuen Formen der Streitbeilegung zu suchen und sie zu instutionalisieren, neue Einrichtungen im KSZE-Prozess zu schaffen. Die Sicherheit jedes Staates wurde unteilbar mit der Sicherheit aller verbunden, die Sicherheit aller Staaten mit der Sicherheit jedes einzelnen Staates. Institutionelle Regeln sollten später geschaffen werden, der Phantasie waren keine keine Grenzen gesetzt.
Der Text der Charta enthält aber auch hier folgenschwere Unklarheiten: Jeder Staat sollte über seine Sicherheit selbst entscheiden können, gleichzeitig sollte jeder auf jeden Rücksicht nehmen. Was denn nun: Soll jeder tun und lassen dürfen, was er will? Oder muss es einen ständigen Prozess des Aushandelns geben, in dem jeder auf jeden anderen Rücksicht zu nehmen hat. Und was passiert, wenn die einen gar nicht Rücksicht nehmen wollen, haben dann die anderen ein Veto-Recht?
Dennoch: Die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden in Europa schienen gelegt.
Will man nicht den unendlichen Rückgriff in die historische Unterdrückungsgeschichte, bleibt nur die Möglichkeit, den status quo anzuerkennen: Die Menschen, wie sie nun mal sind, leben dort, wo sie nun mal wohnen. Einen Weg zurück gibt es nicht, denn dieser Weg wäre voll Ungerechtigkeiten gegenüber den jetzt lebenden Menschen, die sich ihr Schicksal, den Ort und die Gemeinschaft ihrer Geburt, nicht ausgesucht haben. Aber gleichzeitig das auch ein Weg der Zumutungen: Was ein Volk, eine Nation, ein Staat, eine Ethnie oder eine Sprachgruppe einmal verloren haben, soll sie für immer aufgeben, während die „Gewinner“ behalten dürfen, was ihre Vorläufer rechtmäßig oder oft genug unrechtmäßig verloren haben.
Diese mit der Charta von Paris verbundene Herausforderung ist kaum je wahrgenommen worden. (Sie selbst ist ja auch weitgehend unbekannt, wird in öffentlichen Auseinandersetzungen ab und zu als Waffenarsenal benutzt.) Aber diese Herausforderung ist der Prüfstein, an ihr entscheidet sich, ob der Friedensprozess gelingt.
Sie hätte nicht nur mit einem umfangreichen politischen, insbesondere erinnerungspolitischen durchaus kontroversen Kultur- und Austauschprogramm verbunden sein müssen. Es wäre ein großes gemeinsames Bildungs- und Ausbildungsprogramm erforderlich gewesen, mit dem eine gemeinsame politisch-moralische Grundlage in der Bevölkerung und in der politischen Führung hätte geschaffen werden müssen.
Wann immer wieder Frieden sein wird, wird sich diese Aufgabe neu stellen. Denn es geht um einen für die Menschheitsgeschichte entscheidenden politisch-moralischen Sprung23.
Das Scheitern
Die Charta von Paris sollte Grundlage für ein europäisches Friedensprojekt werden. Eine der Aufgaben wäre es gewesen, Institutionen und Einrichtungen der gemeinsamen Willensbildung zu schaffen, insbesondere für die Bewältigung von Konflikten zwischen den Mitgliedsstaaten. Es hätte eine europäische „Sicherheits- und Friedensregierung“ geschaffen werden können. Dazu ist es nicht gekommen.
Der Verlauf des Scheiterns ist oft beschrieben worden24. Über die tieferen Gründe muss man etwas rätseln, sind nur mehr oder minder plausible Vermutungen möglich.
Wenn der ewige Imperialismus Russlands die Ursache des jetzigen Kriegs ist, dann gibt Frieden erst, wenn es kein Russland mehr gibt. Aber weil der Weg dort hin selbst wieder kriegsriskant ist, müsste erreicht werden, dass das gesamte sonstige Europa so gegen Russland gerüstet ist, dass Russland keinen Krieg wagt. Ein teurer Weg, der die Entwicklung Europas massiv behindern würde.
Erste Schritte
Wenn aber, wie Varwick sagt, mangelnder Interessenausgleich die Ursache des Kriegs ist, dann wäre für einen neuen Frieden nach den Bedingungen für einen Ausgleich zu suchen. Ob der Krieg militärisch mit dem Sieg der einen oder anderen Seite endet oder mit einem (vorläufigen) Patt, einer zukünftigen „innerdeutschen“ Grenze, einer koreanischen Grenze oder einer Art Kaschmirs, egal: der politische Frieden darf für keine der beiden Seiten demütigend sein. Gebietsabtretungen, die die Grenzen von 2013 dauerhaft völkerrechtlich verändern, sind ausgeschlossen.
Es muss ein „demokratischer Frieden“ sein, mit dem die weit überwiegende Mehrheit der Menschen der verfeindeten Staaten und Bevölkerungsgruppen sich identifizieren kann27.
Die Prinzipien solch eines Friedens sind, wie schon gesagt, bekannt, die Charta von Paris enthält sie: Demokratie im Inneren, Sicherheitspartnerschaft nach außen28. Allerdings müssen die Mängel dieses Textes von 1990 in den Blick genommen werden: Nicht hinreichende Beachtung und Regelung der inneren Vielfalt der Staaten, fehlende Mechanismen bei der Konfliktregulierung.
Das bedeutet für die verschiedenen Ebenen des Konfliktes/Kriegs:
Das Procedere der Implementation eines solchen Friedens – Welche Macht steht wo mit ihrem Truppen? Gibt es längere Besatzungsverhältnisse und / oder Stationierungen? Sind internationale Hochkommissare nötig, die die örtlichen Selbstverwaltungen anleiten29? Müssen Bevölkerungsgruppen getrennt werden? Jetzt, für eine Übergangszeit, für immer? – kann gar nicht vorher gesagt werden, da wird man sehen müssen.
Europäische Politik, die solch eine Ziele verfolgen will, müsste allerdings ihr Verhältnis zu den USA überdenken, das wäre wohl der schwierigste Teil der Politik30.
Dauerhafte Prinzipien
Der Weg nach vorn kann nur mit einem Weg zurück beginnen: Zurück zu jenen Momenten, in denen der Weg zum „ewigen Frieden“31 gefunden zu sein schien. Es muss das Wertvolle dieser Gelegenheiten geborgen werden und die Fehler, die sich im Anschluss gezeigt haben, müssen vermieden werden.
Welche Prinzipien sind Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden? Wie müssen die inneren und äußeren Ordnungen der Politik / des Zusammenlebens gestaltet werden?
Diese Prinzipien sind natürlich nur ein erster Entwurf. Die Praxis wird und muss sie modifizieren.
Sie sollen dazu dienen, ethnische Konflikte (oder ihre Instrumentalisierung durch äußere Mächte) zu verhindern und gleichzeitig die Bedeutung großer Mächte zurück zu drängen, indem sie auf neue politische Einrichtungen und Regelungen hinweisen. Vermutlich sind diese Vorschläge unzureichend.
Es ist schon fast idyllisch einfach, sich ein friedliches Europa zu malen. Irgendwie kann es vielleicht hinbekommen, dass sich selbst Polen und Russen lieben. – Wenn da nicht die USA wären, das schwerste Problem, nicht wirklich zu lösen.
Man kann mit dem Friedman-Video „Wie die USA Europa spaltet: Friedman-Rede auf Deutsch | Chicago Council on Global Affairs 2015-02-04“ anfangen35: Die USA müssen und wollen verhindern, dass Deutschland und Russland miteinander Europa entwickeln. Die Folge wäre eine Konkurrenz in globalen Dimensionen.
Man kann aber auch in den 1950er Jahre zurück gehen: Die USA forcierten die Gründung einer deutschen Westrepublik, ein wiedervereinigtes Deutschland hätte ihren Einfluss in Europa womöglich reduziert.
Lag damals ein vereinigtes Europa nicht im Interesse der USA, so behinderte sie in diesen Jahrzehnten mit großem Erfolg den Aufbau eines Gemeinsamen Hauses Europa36.
Die SiPo-Szene – gemeint sind die diversen Thinktanks, Bundeswehr-Schreiber, Professoren für Internationale Beziehungen und was sich da sonst noch für kompetent hält oder dafür gehalten wird – kannte vor ein paar Jahren eine Diskussion zur „strategischen Autonomie“: Ob Europa – gemeint ist EU-Europa – in der Lage sei als eigenständiger Militärakteur in der Welt neben und vielleicht auch mal abseits von den USA aufzutreten, schließlich habe es insgesamt gesehen doch eine größere Bevölkerung und sei irgendwie auch wirtschaftliche stärker als die USA. Die USA äußerten massive ihren Widerstand37. Sie endete mit der Übereinkunft, dass Eigenständigkeit neben den USA schon deshalb nicht möglich sei, weil Europa keine vergleichbare Rüstungsindustrie habe, jeder Staat vielmehr weiterhin seinen teuren Kram auf Kosten der europäischen Gesamtheit mache. Aber Europa könne die USA welt- und militärpolitisch im Bündnis mit eigenständigen Beiträgen begleiten; ganz Europa als Junior, der ab und zu mal mitreden darf.
Seit Walter Ulbrichts „Deutsche an einen Tisch“38 und Ernst Buschs heute befremdlich anmutendem Lied „Ami go home“39 ist das Verhältnis (West-)Deutschland / USA zwar tausendfach analytisch thematisiert worden (Leitfrage: Welchen negativen Einfluss haben die USA auf die Welt im Allgemeinen, auf Europa im Besonderen und auf Deutschland ganz konkret?) zwar immer wieder thematisiert worden, aber meist nur analytisch, oft auch mit der Forderung, die USA mögen sich an diese oder jene Regel halten.
Clay und Cloy aus USA
Sind für die Etappe da:
Solln die German boys verrecken in dem Sand!
Noch sind hier die Waffen kalt,
Doch der Friede wird nicht alt,
Hält nicht jeder schützend über ihn die Hand.
Go home, Ami, Ami go home,
Spalte für den Frieden dein Atom,
Sag good bye! dem Vater Rhein,
Rühr nicht an sein Töchterlein;
Lorelei, solang du singst, wird Deutschland sein.
Natürlich kenne ich nur einen Bruchteil dessen, was man dazu lesen könnte: Ich kenne keinen welt-ordnungspolitischen Entwurf aus friedensbewegten Kreisen, der den USA in Europa einen definierten Platz vorschlagen würde, mit dem die USA den Europäern zwar wirtschaftspolitisch verbunden wären, sie aber in der Sicherheits- und Militärpolitik in Europa keinen Schaden anrichten könnten.
Es gibt den Vorschlag, die Nato durch ein europäisches Sicherheitssystem zu ersetzen. Die LINKE fordert in ihrem Erfurter Parteiprogramm von 201140:
Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat.
Mal abgesehen davon, dass die USA jeden Nato-Staat einzeln in die Mangel nehmen würden, um so ihr Einflussinstrument zu erhalten, würde dieser Übergang von der Nato zu einem europäischen Sicherheitssystem dem politischen Einfluss möglicherweise nicht nur nicht mindern, sondern ihn noch chaotischer und unberechenbarer machen. Die USA hätten dann womöglich ungehinderten und und von keinen anderen Partnern kontrollierten politischen, militärpolitischen und wirtschaftliche Zugriff auf die einzelnen Staaten Europas und dieses gegeneinander ausspielen.
Es könnte sein, dass alles noch ärger wird.
Der SPD-Politiker Dohnanyi schlägt vor41:
Doch es ist eine weitreichende Lehre, die wir aus den Einstellungen der Mitglieder der Europäischen Union zu den Fragen der äußeren Sicherheit ziehen müssen: Wenn es richtig ist, dass Sicherheit die zentrale Aufgabe eines Staates gegenüber seinen Bürgern ist, und wenn wir dann erkennen müssen, wie wenig Übereinstimmung es heute zwischen den Mitgliedern der EU in Fragen militärischer Sicherheit gibt, dann zeigt sich doch, wie weit entfernt Europa noch von einer wirklich politischen Interessengemeinschaft ist. Eine Kommission, die es in Jahrzehnten des wirtschaftlichen Zusammenwachsens nicht fertig gebracht hat, in Europa ein gemeinsames europäisches Konzept der politischen Identität ohne US-amerikanische Wegweisung zu formulieren, ist offenbar nicht auf dem richtigen Weg.
Wenn Europas Sicherheit heute und in vorhersehbarer Zukunft nicht von den immer nur geopolitisch orientierten USA gewährleistet werden kann, und wenn Brüssel wegen divergierender Interessen der Mitgliedsstaaten nicht bereit oder in der Lage ist, eine handlungsfähige europäische Sicherheitsorganisation aufzubauen, dann sind offenbar nationale Initiativen der Mitgliedsstaaten gefordert. Oft wird nach mehr deutscher Führung gefragt. Und da die Unversehrtheit Europas militärisch auf konventionellem Wege nicht gewährleistet werden kann, sollte die deutsche Erfahrung mit den Mühen einer Entspannungspolitik jetzt mutig in die europäische Debatte eingebracht werden. Deutsche Diplomatie ist gefragt, wie in Willy Brandts Zeiten. Dass Frankreich bereit sein würde, seine Force de frappe im Falle einer terrestrischen Bedrohung an Europas Ostgrenzen einzusetzen, ist ebenso unwahrscheinlich, wie es auch für die USA ausgeschlossen wurde: Das Risiko für das eigene Land wäre auch für Frankreich viel zu groß.
Doch das bedeutet kein Ausscheiden aus dem Nato-Verbund. Die Nato ist nämlich einerseits auch konventionell ein Grund für russische Zurückhaltung in Europa, und andererseits gibt es auch andere, quasi militärische Bedrohungen, die wir im Auge haben müssen und für die die Nato und die EU im eigenen Interesse Beiträge leisten müssen. Hierher gehören unter anderem die Terrorbekämpfung, die Abwehr von Cyberangriffen und die Fähigkeit, militärische Einheiten zu entwickeln, die kurzfristige Eingriffe bei einer Bedrohung deutscher oder europäischer Interessen ermöglichen. Es war gut, dass die neue Bundesregierung die in einem Teil der Parteien vorhandenen ideologischen Vorbehalte gegenüber Einrichtungen wie dem BND, der Entwicklung auch bewaffneter Drohnen oder von Truppeneinheiten wie etwa der GSG 9 überwinden konnte.
Aber angesichts der realen Lage in Europa sollten wir -festhalten: Europa kann durch militärische Kraft, sei es die der EU oder die der von den USA beherrschten Nato, nicht wirklich gesichert werden. Das Ziel Europas muss am Ende eine allianzneutrale Position sein. Wer sich selbst gegenüber einem Stärkeren nicht mehr wirkungsvoll verteidigen kann, für den ist es immer sicherer, sich nicht einzumischen in Konflikte der Größeren und sich auch nicht durch eine Allianz zu binden. Diejenigen Staaten, die während des Zweiten Weltkrieges diese Regel befolgten, wie zum Beispiel Schweden, die Schweiz oder auch Spanien, kamen un-zerstört aus dem Krieg heraus. Deswegen ist es auch heute im Interesse Europas, einen solchen Kurs anzustreben.
Was immer der Ausdruck „allianzneutral“ bedeuten mag, er signalisiert zunächst, dass auch Dohnanyi nicht so recht weiß, in welche Richtung europäische und deutsche Sicherheitspolitik mit oder die USA gehen soll.
Man kann jedoch feststellen, dass die USA die zunächst widerstrebenden europäischen Nato-Partner langsam, aber sicher auf ihre außenpolitische Linie gebracht haben. Zwar hat Bundeskanzler Schröder Deutschland aus dem Krieg der USA gegen den Irak herausgehalten, zwar hat die Bundeskanzlerin Merkel immer wieder den Druck der USA abgemildert, z.B. beim Libyen-Krieg, aber letztlich ist Deutschland doch auf die US-Linie eingeschwenkt, spätestens 2022. Diese Entwicklung hatte 2013, außerhalb der Fachöffentlichkeit kaum wahrgenommen, mit dem Konsenspapier „Neue Macht – Neue Verantwortung“42, formuliert unter der Leitung der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP – finanziert vom Bundeskanzleramt) und der US-Einflussorganisation GMFUS unter Beteiligung großer deutscher Unternehmen an Fahrt aufgenommen. Seitdem trommelte es in den Medien ununterbrochen: Die Bundeswehr an die Front, zur Unterstützung der USA
Dazu hat ein Umschwung beim wissenschaftlich-publizistisch-propagandistischen deutschen Personal beigetragen. Wo auch immer man hinschaut, die Personalpolitik der USA war schon da. Selbst die gegenwärtige deutsche Außnministerin ist Zögling dieser Offensive. Eine eigenständige deutsche politische Personalentwicklung scheint es schon längst nicht mehr zu geben.
Diese neue Abhängigkeit Deutschlands von den USA wird in der deutschen Öffentlichkeit so gut wie nicht wahrgenommen.
Was momentan jedoch bleibt: So recht weiß keiner, was da im Verhältnis Europas / Deutschlands zu den USA geschehen soll und kann.