Das Europa-Buch – und Fragen

Über den gegenwärtigen Krieg – genauer: Der Angriff der russländischen Föderation auf die Ukraine – ist jede Menge geschrieben worden und wird jeden Tag mehr geschrieben. Aber damit werden die grundlegenden Probleme nicht unbedingt klarer.

Genau darum muss es gehen: Wie kann dauerhafter Frieden sicher gestellt werden?

Diese Frage soll mit dem Blick auf das Buch von Ulrike Guérot + Hauke Ritz „Endspiel Europa – Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können“ diskutiert werden.

Das Buch enthält viele Aussagen, die in der Friedensbewegung wenig strittig sind. Das betrifft vor allem die Vorgeschichte des Kriegs1. Aber es gibt auch eine Dinge, die in der Friedensbewegung, vielleicht darüber hinaus in der politischen Linken (das Wort im weitesten Sinn genommen), kaum diskutiert oder spontan anders eingeordnet werden. Das könnte damit zu tun haben, dass die Friedensbewegung, wie wir sie jetzt kennen, eine – im weitesten Sinn – „linke“ Bewegung ist, immer noch kommunistisch / marxistisch-leninistisch / linkssozialdemokratisch beeinflusst, wie sie sich seit den 1950er Jahren herausgebildet hat.

Die früher starken christlichen Bezüge sind so gut wie verloren gegangen. Es gibt noch christliche Kreise, die sich mit der Friedensfrage beschäftigen2, die ehemalige Bischöfin Margott Käßmann3 mag für sie genannt sein, sogar institutionell in den Kirchen eingerichtet, aber nicht mehr im Rahmen der Friedensbewegung. Der organisatorische Faden ist bestenfalls locker, wie man an der Distanzierung Käßmanns von der Demonstration des Friedensmanifestes sehen kann4, gerissen, vor allem aber, sind die nicht Teil der Argumentationskultur der Friedensbewegung. Jesus Christus findet in der Friedensbewegung nur am Rand statt5.

Völlig geschwunden sind konservativ-nationale Bezüge. In den 1950 gab es noch Widerstand gegen die Politik der Wiederaufrüstung, weil sie eine Politik der Teilung Deutschlands war. Nationale deutsche Bezüge fehlen inzwischen in so gut wie jeder politischen Diskussion / Debatte / Kontroverse6. Es gibt keine zum Patriotismus erzogene soziale Klasse mehr, also auch niemanden, der aus einer solchen Klasse heraus der gegenwärtigen Außen- und Militärpolitik widersprechen könnte. Die Bundeswehr ist im Geist des „Bündnisses“ erzogen, die eigene Nation steht nicht an erster Stelle. Ab und zu machen dort einige nicht mehr mit. Otto von Bismarck gibt es in der Friedensbewegung nicht mehr.




Kulturelle Unterschiede und Traditionen

Das Guérot / Ritz-Buch will gegen die „kulturelle Hegemonie“ Amerikas, insbesondere den „woken“ Einflüssen und Regulierungen7, wird auf eine Alternative hingewiesen: Die europäische Tradition8. Es wäre zu klären, was das bedeuten kann.

Die europäische Kultur ist über einen mehrere Jahrhunderte dauernden Prozess von der Malerei über die Musik bis hin zur Baukunst zur Weltkultur geworden. Doch diese europäische Kultur wurde im letzten halben Jahrhundert zunehmend von den USA interpretiert. Diese amerikanische Interpretation der europäischen Weltkultur ist stark und gewährleistet die Soft Power der USA, solange sie die einzige ist. Das Potenzial, die amerikanische Interpretation der europäischen Kultur infrage zu stellen, besitzt derzeit nur Russland. Nur Russland verfügt innerhalb des europäischen Kulturraums über genügend staatliche Unabhängigkeit, um auch kulturell einen eigenen Standpunkt zu behaupten. Das daraus hervorgehende intellektuelle und kulturelle Potenzial Russlands stellt eine Vergleichbarkeit her, die die USA vielleicht noch mehr fürchten als die russischen Atomwaffen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die USA vor allem daran interessiert sind, Russlands staatliche Souveränität zu brechen, bevor aus der Erinnerung an eine kulturelle, russisch-europäische Verbundenheit eine politische Versuchung wird, die Europas Emanzipation beflügeln könnte.

Denn Europa ist die Republiques des Lettres, der Hort des Geistes, des Dritten, des tertium non datur. Allein schon deswegen kann sich Europa politisch, strategisch oder ökonomisch nicht fest zuordnen, kann sich kulturell nicht auf eine Seite stellen, nicht einseitig sein. Es braucht einen Schutzraum zwischen »Chimerica«, ein »Zwischenland«, eine neue Form europäischer Staatlichkeit, die ihm genau die Entfaltung dieser Werte ermöglicht. Diese muss jetzt neu gedacht werden, wenn Europa eine andere Chance haben soll, als zum amerikanisierten Rumpf zu verkommen.

Europa hat tief in seinem Innersten eine EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, inter-nationalistisch und antikapitalistisch ist. Das spricht aus allen seinen konstitutiven Texten, weil es dieses Europa ist, das immer wieder aus den Trümmern von Nationalismus und kapitalgetriebenem Militarismus entstanden ist. Europa ist mithin die Antithese zu Nationalismus, Militarismus und Kapitalismus. Aber genau diese drei Ismen finden, unter amerikanischer Führung, ihre derzeitige Apotheose im Krieg in und um die Ukraine. Nutzen tut dieser Krieg weder der Ukraine noch Europa.

Das mag ja alles sein oder auch nicht: Die Kultur der Antidiskriminierung hat sich in jenen aufgeklärten, irgendwie vorwärts drängenden Bevölkerungsgruppen durchgesetzt, ohne die eine breite Friedensbewegung gar nicht erst möglich ist9. Aber mit ihr allein wird es auch nicht reichen; ohne die inzwischen ausgeschlossenen Schichten der schlecht Verdienenden oder ausländischen Mit-„Bürgern“ ohne Wahlrecht wird es keine erfolgreiche Friedensbewegung geben. – Hier steht eine völlig ungelöste Aufgabe an.




Neue Ordnungen in Europa?

Wie auch immer der Krieg ausgeht, es wird eine neue politische Ordnung in Europa geschaffen werden müssen, soll er sich nicht wiederholen. Ohne eine neue Ordnung wäre ein Frieden vermutlich nur eine Zwischenphase zum nächsten Krieg. Es ist egal, ob der Krieg so ausgeht, wie der Soziologe Wolfgang Streeck vermutet10 oder irgendwie anders.

Alle, die sich mit dem Thema ernsthaft beschäftigen, wissen im Grunde, wie das Ergebnis dieses Krieges aussehen wird: nämlich ungefähr wie die Minsker Vereinbarungen – nicht unähnlich übrigens der politischen Plattform, auf der Selenskyj 2019 mit Dreiviertelmehrheit vom ukrainischen Volk gewählt wurde. Das heißt: die Krim bleibt bei Russland (über ihren endgültigen Status wird irgendwann in der Zukunft entschieden), die russischsprachigen Gebiete der Ukraine erhalten einen Sonderstatus, mit weitreichender Autonomie, unter internationaler Überwachung, und die Ukraine bleibt neutral, d.h. unter anderem: genehmigt anders als Rumänien und Tschechien keine Abschussbasen für amerikanische Mittelstreckenraketen auf ihrem Territorium, das Ganze garantiert durch eine der OSZE ähnliche internationale Sicherheitsarchitektur.

Es wird irgendeine Ordnung geschaffen werden müssen, schnellt und sofort oder sich langsam herausbildend, die an die Regeln früherer Zeiten anschließend und sie um neu Regeln oder eine neue Ausgestaltung ergänzt. Guérot / Ritz erweitern die bisherigen Regeln11:

Der Krieg in der Ukraine könnte mithin zum historischen Auslöser werden, Europa tatsächlich neu zu denken, staatlich, aber nicht nationalstaatlich, von einer europäischen Bürgerschaft her. Denn was für die Ukraine gilt, gilt auch für Europa. Genau wie sich die heutige Ukraine aus dem ehemaligen Galizien, dem Donbass und der Krim zusammensetzt, die föderal organisiert werden sollten, anstatt sich in Richtung einer nationalen Zentralregierung zu entwickeln, so setzen sich auch die meisten westeuropäischen Staaten aus mehr oder weniger unabhängigen, autochthonen Regionen zusammen, vom Elsass über das Rheinland bis nach Apulien oder Schlesien. Nationalstaatliche Strukturen werden auch in EU-Europa durch regionale Bewegungen herausgefordert. Schottland, Korsika oder Katalonien sind nur die aktuellen Beispiele. Regionen und Städte - Barcelona, Wien oder Hamburg - haben, zusammen mit grenzüberschreitenden Kooperationsräumen, wie etwa dem Alpenraum, dem baltischen Raum oder dem Schwarzmeerraum - sowohl wirtschaftlich wie kulturell das klassische Konzept des Nationalstaates als Einheit längst gesprengt, wenngleich er in absehbarer Zeit nicht gänzlich verschwinden dürfte und nach wir vor in bestimmten Bereichen unersetzbar ist, z.B. zur Durchsetzung des legitimen Gewaltmonopols oder als (Verwaltungs-)Einheit für den Zugang zu sozialen Rechten. Doch mehr denn je muss Europa in autonomen, kulturell und sprachlich eigenständigen Räumen gedacht werden, die ineinandergreifen, was dazu führen wird, dass immer wieder auch in (sozial-)staatlichen Angelegenheiten die Grenzen des Nationalstaates überschritten werden. Eventuell könnte dieses Konzept auch auf die Russische Föderation übertragen werden. Dies müsste aber im Dialog mit Russland geschehen, wobei die EU lernen müsste, den dortigen Gesellschaften die Entscheidung ohne Einflussnahme zu überlassen. Regionalisierung im Rheinland bedeutet etwas anders als am Polarmeer oder in den Weiten Sibiriens. Deshalb wäre zu prüfen, ob die EU nicht auch etwas von Russland lernen könnte. Insbesondere was das friedliche Zusammenleben unterschiedlichster Religionen und Kulturen angeht, verfügt der Vielvölkerstaat Russland gegenüber der EU über einen enormen Erfahrungsvorsprung. In der russischen Stadt Kasan beispielsweise leben Moslems und Christen seit Jahrhunderten friedlich nebeneinander, was auch daran liegt, dass innerhalb Russlands ein säkularer Islam existiert.

Hierin liegt der Wegweiser zu einer neuen kontinentalen Ordnung, in der auch das alte Galizien, der Donbass und die Krim jeweils auf ihre Art gedeihen könnten, überwölbt von einer europäischen Konföderation. ...

Wenn Erweiterung und Vertiefung Europas wieder zusammengedacht werden sollen und europäische Souveränität vom Bürger aus gedacht wird, dann geht es nicht mehr um EU-Beitritte von Staaten, sondern nur noch um die Ausgestaltung einer europäischen Demokratie, ausgehend von einer gleichberechtigten europäischen Bürgerschaft jenseits von nationalen Grenzen. ...

Eine politische Reorganisation, die allen autochthonen, autonomen, sprachlich und kulturell verschiedenen Einheiten vom Donbass bis Abchasien ihre regionale Eigenständigkeit gewähren würde, lässt sich nur im Rahmen einer kooperativen, föderalen Ordnung zusammen mit Russland erzielen. ...

Der aktuelle Krieg, geführt um eine historisch geradezu absurde territoriale Integrität der Ukraine, könnte also dafür genutzt werden, Europas überfällige Loslösung von seinen nationalstaatlichen Konturen zu befördern, die seit 1989 das Versprechen war. So besehen wäre der Krieg in der Ukraine die Möglichkeit für eine wahre europäische Katharsis, nämlich zu sich selbst zu finden - wenn Europa bereit ist, seine Denkrichtung zu ändern.

Denn Souveränität heißt heute eben nicht mehr nationalstaatliche Souveränität, die in Europa oft genug gewaltsam über Kriege und genau jene Einverleibung von Regionen etabliert wurde, wie es auch heute im Ukraine-Krieg die zentrale Frage ist. Sondern Souveränität heißt heute vor allem die Wiederinbesitznahme des eigenen Landes, die Sicherung lokaler Nahrung und Energie, die regionale Gestaltung von Autonomie, die Durchbrechung von Globalisierung und Abhängigkeitsstrukturen, die Herausnahme aus globalen Konzentrationsbewegungen, die kooperative Gestaltung des überschaubaren Eigenen. Und das geht innerhalb kleiner Einheiten, geschützt durch eine gemeinsame europäische Staatlichkeit, viel besser.

Die bisherigen Regeln waren vermutlich nicht falsch, aber nicht ausreichend. Neue Regeln und neue Institutionen sind notwendig. Da muss man mit Phantasie heran gehen.

Es kann sein, dass Guérot / Ritz in diesem Text zu viel verlangen, jedenfalls, wenn es um Lösungen für die nächsten Schritte geht. Aber das kann und darf nicht hindern, die Überlegungen weiter schweifen zu lassen, um neue Schritte zu finden. Was hier vorgeschlagen wird, ist sicher diskussionsbedürftig, aber doch auch diskussionswürdig.

Dazu auch ein Blick auf das Buch „Nationale Interessen“ von Klaus von Dohnanyi.




Vertiefungen der Friedensbewegung?

Friedensbewegung muss politische Grenzen, wie sie für den Betrieb einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie notwendig sind, sprengen. Das Parlament braucht Parteien und Fraktionen, der Frieden braucht Gemeinsamkeiten. Friedensstiftende Verfassungen sind nur dann wirksam, wenn sie von politischen Gegnern / Wettbewerbern geteilt werden, der äußere Rahmen des Verfassungsfriedens ist aber der Frieden nach außen. So, wie Demokratien im Inneren immer gefährdet sind, weil einflussreiche Kreise noch einflussreicher werden wollen, kann der äußere Frieden durch Hegemonie- und Machtstreben bedroht, ja zerstört werden. Friedensfragen gehen deshalb über Parteifragen – so wichtig sie sind – hinaus.

Weltbild und Sprache der Friedensbewegung darf deshalb nicht „links“ sein, sie muss vielmehr jeden einzelnen Staatsbürger ansprechen und mitnehmen können. Es darf nicht von Bedeutung sein, ob jemand die traditionelle Kleinfamilie bevorzugt, in der Mann und Frau unterschiedliche Aufgaben haben, oder die Partnerschaft völlig Gleicher, ob jemand Ehe und Familie auf Mann und Frau beschränkt wissen will oder alle Arten von Partnerschaften gleich bewertet sehen will. Für Krieg und Frieden ist das alles gleichgültig.

Die politische Linke hat in den letzten Jahrzehnten große Teile der Bevölkerung verloren, politische Konzepte und politische Praxis waren zu eng geführt. Kulturelle Fragen haben die Menschen voneinander getrennt und trennen sie weiter.

Die Friedensbewegung kann diese Trennungen nicht rückgängig machen. Aber sie kann es schaffen, für Menschen der verschiedenen politischen und kulturellen Herkünfte verschiedene Zugänge zu gemeinsamen Forderungen und Zielen zu formulieren. Vielleicht ist das Buch von Guérot / Ritz ein Anlass dazu, eine Hilfe dafür.



Fußnoten

... Kriegs1
Guérot / Ritz: 90ff, 131ff
... beschäftigen2
Beispielsweise: https://www.evangelische-friedensarbeit.de/, https://www.nordkirche.de/frieden, https://www.ekiba.de/detail/nachricht-seite/id/37298-friedensbildung-ist-ein-qualitaetsmerkmal-evangelischer-bildungsarbeit/, https://www.nordkirche.de/adressen/institutionen/detailansicht/institution/referat-friedensbildung. Dort geht es durchaus darum, wie zu vermuten, wie der Einzelne sich selbst friedensfähig macht, aber auch um die politischen Bedingungen des Friedens, zb https://www.paxchristi.de/.
... Käßmann3
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/manifest-frieden-margot-kaessmann-100.html, https://www.nordbayern.de/politik/interview-mit-margot-kassmann-mehr-waffen-bringen-keinen-frieden-1.11939542
... kann4
https://www.sueddeutsche.de/politik/kaessmann-kundgebung-wagenknecht-schwarzer-1.5755749
... statt5
Eine schöne Ausnahme https://www.bremerfriedensforum.de/pdf/ostermarsch-2023-in-bremen-5445.pdf mit Eugen Drewermann.
... Kontroverse6
Klaus von Dohnanyi ist eine Ausnahmeerscheinung. Er gilt als elder statesman, wird jedoch inzwischen als leicht senil diffamiert, ebenso Günter Verheugen.
... Regulierungen7
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.was-bedeutet-woke-mhsd.e98ad6e7-a8b7-42e8-aae7-7bb0563e0a36.html
... Tradition8
S. 147 - 153, Zitat S. 152
... ist9
Vielleicht kann man die Auseinandersetzungen um Sahra Wagenknecht in diesem Kontext sehen: Für sie ist die „woke“ Anschauung eine Angelegenheit der besseren Kreise, mit denen die Vielzahl der arbeitenden und schlecht verdienenden Menschen gar nichts zu tun hat.
... vermutet10
https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/soziologe-wolfgang-streeck-die-amerikaner-meinen-es-bitterernst-92108110.html
... Regeln11
S. 173ff


Horst Leps
2023-04-09