Unzureichende Vermutungen
Dr. Horst Leps
Date: 15. September 2023,
Der Verlauf eines Kriegs lässt sich immer schlecht vorhersagen. Könnte man einen Kriegsplan so sicher entwerfen wie einen Bauplan für ein Haus, wären die meisten Kriege sicher ausgefallen.
Es ist immer falsch, eine gegebene aktuelle Situation einfach in die Zukunft zu verlängern, es sei denn, der Krieg ist schon unwiderruflich entschieden. Man sollte kriegswichtige Faktoren betrachten und deren mögliche Entwicklung bedenken. – Aber dann kann man die Zukunft immer noch nicht sicher vorhersagen, denn der Krieg ist eine menschliche Handlung, die geschickt und gekonnt oder ungeschickt und dumm ausgeführt werden kann. Im Krieg gibt zwar jede der beiden Parteien der anderen den Rahmen ihrer Handlungen, sie kann diese Handlungen aber weder vorhersehen noch bestimmen. Die Anschauungen über den Krieg ändern sich im Krieg, die Parteien lernen im Krieg oder vergessen, was sie schon einmal wussten.
Ein Krieg Russlands gegen die Ukraine schien zunächst eine einfache Sache zu sein: Der Stärkere gewinnt. Russland war / ist nun mal stärker: Wirtschaftlich, militärisch, militärisch-technisch, Ausdehnung, Bevölkerung, was immer man betrachtet. Eigentlich erwartete jeder, dass Russland in wenigen Tagen Kiew einnimmt und eine neue Regierung einsetzt. Ob Russland auch bis in den gefährlichen ukrainischen Westen vorstößt, konnte unklar bleiben, denn politisch schien die Sache schnell verschieden: Diese ukrainische Regierung verliert den Krieg.
Jedoch: Es kam anders. Russland schaffte es nur bis in die Vororte von Kiew und Charkow und musste sich dann zurückziehen1. Russland schickte ein viel zu kleines Expeditionskorps in den Krieg. Es ging von einer innerlich schwachen Armee aus, die schnell kapituliert. Hatte Russland übersehen, dass diese Armee nach 2014 neu aufgebaut worden war? Und zwar zum einen mit Einheiten aus der banderistischen Nationalgarde und ähnlichen Truppen, zum anderen mit Militärhilfe aus Nato-Staaten. – Auch im Westen ging man von einem schnellen Zusammenbruch der Ukraine aus und schlug schon die Bildung einer ukrainischen Exilregierung vor. – Die Bevölkerung floh massenhaft, auch in der Ukraine ging man von einer baldigen Niederlage aus.
Wer auch immer es angetrieben hat: Selenskij blieb in Kiew, die ukrainische Regierung und die ukrainische Armee blieben handlungsfähig. – Von nun an hatte die Russland die Dominanz in diesem Krieg erst einmal verloren.
Was immer im Detail dazu geführt hat: Von diesem Moment waren die Grundlagen des Kriegs vollständig andere. Wie langsam auch immer die Lieferungen des Westens an die Ukraine in Gang kamen, die Karten waren neu gemischt. Russland hatte es von nun an mit dem der gesamten wirtschaftlichen und technischen Kraft des Westens zu tun, allerdings nicht mit seiner militärischen. Der Westen begann, der Ukraine Waffen und Geld zu schicken und ukrainische Soldaten auszubilden. Der Westen schickte allerdings keine Soldaten zum Kämpfen, bis jetzt nicht.
Damit schien ein Wettlauf zu beginnen:
Jedoch: Der Westen könnte zwar seine wirtschaftliche Kraft in den Dienst des Kriegs stellen, er tut es jedoch nicht. Jeder Phase der materiellen Unterstützung der Ukraine gehen lange Auseinandersetzungen voraus, man könnte es mit der Unterstützung der Ukraine übertrieben und Russland zu unerwünschten Reaktionen provozieren. Russland stockt zwar sein kriegführendes Kontingent auf, bleibt aber unter seinen Möglichkeiten.
Der Krieg „Masse gegen Klasse“ – oder umgekehrt „Klasse gegen Masse“ – findet nicht statt. Es sieht fast so aus, als ob beide Seiten kein Interesse an großen kriegsentscheidenden Schlachten haben: Der Westen schickt keine eigenen Korps in die Ukraine, obwohl er weiß, dass die ukrainische Armee den Sieg allein vermutlich nicht erringen wird; Russland holt nicht zur „Operation Bagration“ aus, mit der die Rote Armee im Sommer 1944 die deutsche Wehrmacht zerschlug.
Man schiebt auf beiden Seiten die Entscheidung hinaus, der Krieg kann noch lange, noch Jahre dauern. Dabei wirkende begrenzende Faktoren:
Je nach politischer Entscheidung sind die Möglichkeiten der Ukraine jedoch unendlich groß: Übernimmt die Nato den Krieg, kann in ihm die größte Kriegsmaschine der Welt zum Einsatz kommen. Russland wäre letztlich chancenlos2. Sein politisches – nicht militärisches! – Bündnis mit China wird ihm nicht wirklich helfen. Russland kann nur unterhalb der großen Konfrontation Erfolg haben, es muss an der Begrenzung des Kriegs interessiert sein. Damit ist es der westlichen Kriegsführung grundsätzlich unterlegen.
Die ukrainische Führung nutzt das aus, indem sie ihre Forderungen an die Nato-Staaten nach Waffensystemen gegen Russland geradezu systematisch steigert: Je gefährlicher der Krieg, desto wichtiger ist sie für die westlichen Staaten. Es ist nicht abzusehen, wie weit es Kiew gelingen wird, die westlichen Staaten in den Krieg hinein zu ziehen.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige osteuropäische Staaten konventionelle Kontingente in die Ukraine schicken werden,; offiziell zur Unterstützung, aber durchaus mit eigenen Interessen. Die Wiedererrichtung der polnisch-litauischen Rzeczpospolita von der Ostsee bis zum Dnepr steht zwar nicht auf der Tagesordnung, ihre Welt bildet jedoch den Hintergrund mancher Bemühungen. Hier kreuzen sich Gegensätze zwischen Polen/Litauen zum einen mit der Ukraine, zum anderen mit Russland mit dem Gegensatz zwischen Russland und der Ukraine. Dieses Gegeneinander von Kooperation und Konkurrenz im westlichen Lager beeinträchtigt einerseits die gemeinsame Wirksamkeit, enthält gleichzeitig die Gefahr explosiver Entwicklungen.
Auch hier wirken Beschränkungen.
Russland kann einen vollständigen Sieg über die Ukraine nicht wollen. Die vielfach zugänglichen Landkarten über die Verteilung der russischen und der ukrainischen Sprache in der Ukraine und der Wahlergebnisse lassen eine dauerhafte Besatzung des Ostens der Ukraine und seine Umformung in einen faktischen Teil Russlands als möglich erscheinen, nicht jedoch des Westens der Ukraine. Dort müsste Russland mit einer lang andauernden Aufstandsbewegung rechnen, mit Partisanenkrieg usw., was eine Stabilisierung extrem aufwendig machen würde. Russland kann auch den Zusammenbruch der von Kiew aus regierten Ukraine nicht wollen, denn dann müsste es mit einem Lemberger Bandera-Staat rechnen. Polen könnte sich mit eigene Truppen einmischen, vielleicht würden sich sogar mehrere Nato-Staaten daran beteiligen. Die Frontlinie wäre zwar nach Westen verschoben, aber es wäre eben eine Frontlinie und keine Waffenstillstandslinie. Es bestünde die Gefahr, dass der Krieg im Westen zu für Russlands deutlich schlechteren und vor allem kostspieligeren Bedingungen weiter geht. – Russland muss vielmehr darauf hoffen, dass in der Ukraine die Kriegsmüdigkeit so sehr wächst, dass eine verzweifelte Bevölkerung und eine demoralisierte Armee oder wer auch immer eine neue Regierung einsetzen, die die Macht hat, das Land zu kontrollieren und zu einem für die Ukraine ungünstigen Abkommen mit Russland bereit ist. – Wie aber führt man Krieg, wenn man nicht vollständig, sondern nur zu 3/4 gewinnen darf? Ist das überhaupt möglich? Oder muss man einfach warten, bis irgendetwas geschieht?
Der Westen hat keine eigenen Ziele bestimmt3. Die Ukraine soll unterstützt werden, so lange sie Hilfe haben will. Die Ziele der Ukraine sind aber durch die Beschränktheit ihrer Kräfte begrenzt. Die offiziellen Ziele („Grenzen von 1991, Reparationen, Bestrafungen“) dürften mehr für die Außenwirkung bestimmt sein: Je größer die Ziele, desto mehr Anspruch auf Unterstützung. Aber warum hat der Westen keine eigenen Ziele? Es könnte sehr gefährlich werden, wenn Russland so besiegt wird, dass die zentrale Macht in Moskau sich auflöst. Nicht nur, dass dann an allen möglichen Stellen ethnische Konflikte aufbrechen und in Gewalt umschlagen können und damit der jugoslawische Auflösungskrieg der 1990er Jahre in völlig anderen, vom Westen nicht zu steuernden Größenordnungen sich wiederholt, es könnte – politik-strategisch viel schlimmer – zu einer Steigerung des chinesischen Einflusses bis hin zum Nordmeer führen. Der Krieg darf nur die Einstellung Russlands ändern, eine neue Regierung, die immer nachgibt, wäre nötig, die einen für Russland negativen Frieden akzeptieren und durchsetzen kann. Der Sieg darf nicht zu stark sein, Russland darf nicht zerfallen.
So ist der gegenwärtige Krieg durch im Stillen kontrollierte Abnutzung bestimmt. (Ob es dazu Gespräche gibt oder ob nur professionelles Einverständnis den großen Sprung verhindert, wäre interessant zu wissen.) Man hofft, dass irgendeine Wendung eintrifft, die neue politische Beurteilungen ermöglicht.
Von den Kriegsparteien wird in absehbarer Zeit keine Initiative zu einem Frieden ausgehen. Das könnte die Annahme nahe legen, dass so gründlich gearbeitete Vorschläge wie die von Brandt, Funke, Kujat und Teltschik4 unsinnig seien. Es hält sich ja doch keiner dran.
Zu den unberechenbarsten Faktoren im Krieg gehört Volkes Stimme. Das wird schon durch die Allgegenwart der Propaganda deutlich. Aber es kann auch Gegenbewegungen geben. Antikriegsbewegungen sind momentan in allen Staaten sehr klein. In Russland scheint es bislang zu gelingen, dass das alltägliche Leben im Wesentlichen weiter geht, in den Staaten des Westens gibt es noch nicht einmal Kriegsopfer. Die Menschen sind noch nicht durch schmerzhafte Erfahrungen veranlasst, diesen Krieg abzulehnen, gar zu bekämpfen. Die Ukrainer erleben den Krieg als ein Leid, das von außen über sie gebracht wird. Da liegt es nicht nahe, den Einsatz von Militär abzulehnen.
Und dennoch: Dieser Faktor – öffentliche Meinung – kann sich ändern. Es ist sinnvoll, mit Vorschlägen von Brandt ua darauf vorbereitet zu sein. Und wenn der Krieg zu Ende geht, wie auch immer, sind Gedankenmodelle nötig, die den Weg in eine friedliche Zukunft zeigen. Genau dazu gehören diese Vorschläge, die in der Überlieferung der Charta von Paris stehen.
Eine andere Grundlage, auf die Frieden aufbauen könnte, gibt es nicht.