Frieden für die Ukraine
Provisorische Gedanken für einen Vortrag 2022
Inhaltsverzeichnis
- 0.1. Vorbemerkung
- 1. Wie geht Frieden?
- 2. Der verzockte Friede
- 3. Zum Frieden in und mit der Ukraine
Dr. Horst Leps – https://www.leps.de – horstleps@gmx.de
0.1 Vorbemerkung
Zur Methode:
Dabei sind die gängigen Auffassungen zugrunde zu legen und zunächst die strittigen Punkte zu klären, um womöglich den Wahrheitsgehalt aller Anschauungen über diese … Gegebenheiten sichtbar zu machen oder wenn nicht, dann wenigstens den der meisten und entscheidendsten. Wenn es nämlich gelingt, die strittigen Dinge zu klären und dann die plausiblen Meinungen übrigbleiben, so wäre ein ausreichender Nachweis gelungen. –
Aristoteles: Nikomachische Ehtik, VII 1
Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eignes Erkennen, die Tat selbst, reproduciren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Thätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntniß unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden.
Friedrich Schleiermacher
Text:
Entwurf zu einem Vortrag über aktuelle Friedensfragen1.
Der Journalismus hat sich an die „Zeitenwende“ von Olaf Scholz angepasst2.
Dass Wladimir Putin, der Präsident der Russischen Föderation, beschlossen hat, die Ukraine militärisch anzugreifen, ist ein Fakt. Dass dieser Beschluss Putins eine Reaktion auf die Politik der USA, Grossbritanniens und ganz generell der NATO war, ist auch ein Fakt. Aber niemand kann die westlichen Medien zwingen, auch diesen Tatbestand zu erwähnen – obwohl sie mit dem konsequenten Verschweigen dieses Fakts – offensichtlich gewollt – die TV-Zuschauer und Zuschauerinnen, die Radio-Zuhörer und Zuhörerinnen, und die Leser und Leserinnen in die Unwahrheit führen.
Um aufgrund von – vermeintlich objektiver – Information eine gewünschte Meinung zu erzeugen, gibt es verschiedene Methoden. Die verbreitetste und wichtigste ist die Auswahl der befragten Experten, die Wahl eingeladener Kommentatoren und die Entscheidung, welche Leserbriefe und Leserkommentare publiziert und welche nicht publiziert werden.
Man muss selbst suchen, das Internet ermöglicht es ja, aber man findet ein Durcheinander an Brauchbarem und Desinformation. Für jeden aktuellen Fall bieten sich dann eine Analyse mit den „Giesecke-Kategorien“3 an.
Für eine Konfliktanalyse … schlägt Giesecke eine Liste von ganz bestimmten Kategorien vor. Sie enthält neben dem Konfliktbegriff selbst genau 10 weitere Kategorien: Konkretheit, Macht, Recht, Interesse, Solidarität, Mitbestimmung, Funktionszusammenhang, Ideologie, Geschichtlichkeit und Menschenwürde. Beim Konfliktbegriff geht es um die Aufdeckung der grundsätzlichen Gegnerschaft. Über die Kategorie Konkretheit sollen die Einzelheiten der Auseinandersetzung erschlossen werden. Die Kategorie Macht fragt nach faktischen Möglichkeiten, sich durchzusetzen. Die Rechtskategorie zielt auf den formalen Rahmen, innerhalb dessen der Konflikt ausgetragen wird. Über die Kategorie Interesse sollen die Positionen und Perspektiven der Beteiligten transparent werden. Mitbestimmung führt zur Frage nach Möglichkeiten, Interessen zur Geltung zu bringen. Solidarität ist jene sozialethische Grundhaltung, die denen zur Verfügung steht, deren Interessen zu kurz kommen, wenn sie jeder für sich allein vertreten würde. Mit Funktionszusammenhang ist die Tatsache der vielfachen Vernetztheit und der Wechselwirkungen gemeint. Ideologie verweist auf Ordnungsvorstellungen, mit denen Interessen und Handlungen gerechtfertigt werden. Über die Kategorie der Geschichtlichkeit soll bewusst werden, dass jeder Konflikt seine Entstehungsgeschichte hat. Und Menschenwürde ist schließlich der übergeordnete Maßstab zur Bewertung von Konflikten und deren Lösungen.
Politische Analysen / Betrachtungen fängt man immer mit dem Anfang an, jedenfalls in der Sache, und entwickelt die Darstellung dann weiter, möglichst bis zur Gegenwart. Wer die Grundlage eines Konfliktes nicht klärt, wird nichts zu seiner Lösung beitragen können. Und zum Schluss sollte es darum gehen, einen Vorschlag oder mehrere Vorschläge zu machen: Wie kann das Problem gelöst oder mindestens „gehandelt“ werden.4
Es kann jedoch nicht um eine genaue historische Rekonstruktion gehen, sondern darum, genetisch ein paar Linien zu ziehen, die insgesamt eine übersichtliche, hoffentlich halbwegs treffende Konstruktion ergeben. Weil wir hier die Wahrheit nicht haben, ist ein Vortrag, in dem ein all- oder auch nur vielwissender Dozent seinem Publikum das Richtige mitteilt, auch nicht die angemessene Form der Veranstaltung, sondern ein Dialog, der sich langsam voran bewegt, manchen notwendigen Umweg dabei gehend.
Die humanitäre Lage aus einem UN-Bericht vom 18.10.20225:
(33) Zivile Opfer nehmen weiter zu. Am 17. Oktober 2022 hatte das OHCHR Seit dem 24. Februar 2022 wurden in der gesamten Ukraine 6.306 Menschen getötet und 9.602 verletzt. Vom 24. Februar bis 31. März 2022 in den vier Provinzen unter der Untersuchung der Kommission wurden 1.237 Zivilisten, darunter 112 Kinder, getötet, laut OHCHR. Die tatsächlichen Zahlen dürften deutlich höher liegen. Monatelange Kämpfe haben die Infrastruktur des Landes mit Tausenden von Wohngebäuden stark beeinträchtigt Gebäude sowie medizinische und Bildungseinrichtungen zerstört oder schwer beschädigt.
Bis Mitte Oktober 2022 hatten Millionen ihr Zuhause und ihre Lebensgrundlage verloren und waren dazu gezwungen fliehen. Über 7 Millionen Menschen aus der Ukraine haben im Ausland und darüber hinaus Zuflucht gesucht 6 Millionen sind Binnenvertriebene. In den meisten betroffenen Gebieten der Ukraine fehlt es an lebenswichtigen Gütern, und es gibt Herausforderungen beim Zugang für humanitäre Hilfe.
Es geht um die Ukraine: Wie Waffenstillstand, dann Frieden in und mit der Ukraine aussehen könnten. (Und es geht nicht darum, wie der Krieg geführt werden könnte / sollte / müsste, damit die richtige Seite gewinnt.)
Zunächst wird für eine Antwort auf diese Frage eine Vorstellung von „Frieden“ gebraucht: Was ist Frieden? Was unterscheidet ihn von einem solchen solchen Zustand, der auch Frieden genannt wird, aber nur ein Waffenstillstand bis zum nächsten Krieg ist?6.
Diese Fragen sind nicht schwer zu beantworten. Aber die Antworten sind schwer zu operationalisieren, konkret auszugestalten.
Wie ein Frieden in Europa zwischen den Staaten aussehen kann und wie man ihn erreichen kann, ist im Prinzip schon geklärt. Der politische Weg dorthin ist schon verabredet worden, und er ist auch schon anfänglich beschritten worden. Man muss sich diese Vergangenheit, in der schon alles da war, nur in Erinnerung rufen. Es ist der Prozess, der mit der „Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ in Europa 1975 begann7 und für die Zeit nach dem Ende des Realsozialismus in der „Charta von Paris“ 1990 erneuert8 und mit dem „Dokument von Istanbul“ 1999 fortgesetzt9 wurde.
Und man muss auf jene Irrtümer schauen, mit denen dieser Weg verlassen wurde. Es sind Rückfälle in jene Zeit, in denen das Bestreben nach Macht nach außen, notfalls gestützt und durchgesetzt mit Militär, sowohl als Ziel als auch als Mittel der Außenpolitik galten. Gleichzeitig haben sich viele Staaten und ihre Gesellschaften als unfähig und unwillens gezeigt, diesen Weg zu einem gemeinsamen Frieden zu erkennen und gehen zu wollen. Es war und ist wichtiger, alte Rechnungen einzufordern, alte und älteste Gegensätze zu pflegen und neue auszutragen, wenn es sein muss, auch mit Gewalt10.
Heute, über 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs und fast 30 Jahre jener Fehler, die das schon längst Gelernte wieder verdunkelt haben, können wir genauer wissen, was im nächsten Schritt auf einen europäischen Frieden besser zu machen ist, welche Fehler unterlassen werden müssen.
Der Text / der Vortrag/ das Gespräch muss also in drei Schritten gegliedert sein:
- Was hatte man 1990 schon über die Gestaltung eines dauerhaften gewusst?
- Wie ist all das Gelernte, Gewusste und schon erreichte vergessen/verspielt worden?
- Wie muss man es jetzt besser machen?
Der Zuhörer soll verfolgen können, wie der Vortragende seinen Gedanken entwickelt, um sie für sich selbst vergegenwärtigen und – besser noch – kritisieren zu können.
In den öffentlichen Diskussionen um den Krieg wird dann, wenn jemand etwas sagt, das nicht der Politik der Bundesregierung entspricht, schnell nach der „Expertise“ gefragt, um seine Äußerungen zu delegitimieren. Wer kein Osteuropa-Fachstudium hat, hat gefälligst zu schweigen11.
Ich kann nur die Expertise des gelernten Politiklehrers anbieten. Das sind Leute, die sehr schnell und dennoch umfassend Materialien und Gedanken zu einem Problem / Konflikt in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Recht zusammen stellen können. Sie müssen dem Gegenstand eine kognitive Struktur geben können, die einen Unterricht ermöglicht, der die (zukünftigen) Staatsbürger auf ein eigenes Urteil vorbereitet12.
Wer beim politischen Urteil immer nach dem Experten fragt, schafft den Staatsbürger ab. – Zumal der Experte eher selten ein neutraler Fachmann ist, sondern selbst in institutionellen Zusammenhängen und Abhängigkeiten steht.
Materialsammlung mit einer didaktischen Einleitung (für Lehrer*innen): https://www.leps.de/2022/08/16/materialien-zum-russisch-ukrainischen-krieg/
Der Text teils in skizzenhafter Form, der Lektor hatte gerade keine Zeit, er ist nicht wirklich auf Tipp- und Rechtschreibfehler überprüft, auch nicht auf falschen Satzbau usw. usf.
1 Wie geht Frieden?
Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine muss, da sind wir uns hier im Saal vermutlich einig, so schnell wie möglich beendet werden. Die Beteiligten müssen sofort mit dem Schießen aufhören und Verhandlungen über den Weg zu Frieden und dessen Ausgestaltung sofort beginnen.
Aber wir können sicher sein, dass nicht jeder auf der Welt das so sieht. Denn es ist ja klar, dass zu jedem Zeitpunkt in einem Krieg die verfeindeten Seiten die Vor- und Nachteile ihrer Lage abschätzen. Die einen sind momentan im Vorteil, es könnte sein, dass sich der Vorteil vergrößern lässt, die anderen sind im Nachteil und wollen ihn erst noch ausgleichen, bevor gesprochen und verhandelt werden kann. Bei uns in Deutschland herrscht die Sympathie für die Ukraine vor, sofortige Verhandlungen hätten vor einem Viertel Jahr zu ihrem Nachteil ausfallen können, jetzt könnte es sein, dass sie ihre Stärke nicht voll durchsetzen kann; Verhandlungen deshalb erst als Gespräche zur Durchführung der russischen Kapitulation angesagt.
Der Krieg, jedenfalls die aktuelle Etappe des Kriegs, wurde von Russland mit seinen Angriffen am 24.02.2022 begonnen. Manche sagen deshalb, der Krieg ist zu Ende, wenn Russland die Kämpfe einstellt und aus der Ukraine abzieht. Aber der Anfang eines Kriegs muss nicht mit seiner Ursache zusammenfallen. Sollten Anlass und Ursache auseinander fallen, wären ein Ende der Kampfhandlungen und ein Rückzug von Truppen sicher ein gutes Zeichen, aber es wäre nicht schon der Beginn eines anhaltenden Friedens.
Welche Kriegspartei will momentan mit der anderen Seite reden? Aus der Ukraine hört man, dass erst dann Verhandlungen geführt werden können, wenn die russische Armee aus der Ukraine hinter die Grenzen von 2013 zurück getrieben worden ist, dann allerdings sind Verhandlungen kaum noch nötig. Und Russland will, wie man hört, nur dann sprechen, wenn seine Kriegsziele von der ukrainischen Regierung anerkannt und zugestanden sind, aber auch dafür gilt, dass Verhandlungen dann nicht mehr erforderlich sind.
1.1 Grundlagen von Frieden
Was sind grundlegende Bedingungen von Frieden? Für das Leben in Staaten wissen wir das im Grunde. Platon und die Bibel nennen es „Gerechtigkeit“, aber das klärt nicht viel, wenn man nicht sagen kann, wie diese „Gerechtigkeit“ funktionieren soll.
Vielleicht hilft ein provisorischer Versuch13:
- Wir Menschen sind verschieden, haben verschiedene Prägungen, Interessen, Ziele. – Diese Tatsache muss zunächst einmal anerkannt werden. Es gibt keine konfliktfreien sozialen Einheiten, weder kleine noch große.
- Also sind Verfahren nötig, mit denen diese Unterschiede, ja Gegensätze nicht konfliktfrei, aber doch gewaltfrei zum Ausgleich gebracht werden können.
- Die Menschen müssen also sowohl im Kleinen als auch im Großen an der Lösung der Konflikte beteiligt sein, vielleicht am Besten durch gemeinsame Ziele, die wiederum nur im Konflikt entstehen und bearbeitet werden.
- Die Menschheit hat verschiedene gesellschaftliche und politische Systeme / Institutionen entwickelt, um das friedliche Zusammenleben im Staat zu gestalten.
- Natürlich mit dem Notausgang: Wenn Beteiligte sich nicht an die Regeln des friedlichen Konfliktaustrags halten, wird auch mit Gewalt eingegriffen. Diese Gewalt muss allerdings in friedlich erzeugten Regeln eingehegt sein.
So weit die Regeln im Staat. Aber wie steht es mit Regeln für die Verhältnisse zwischen den Staaten? Da fehlt ja nicht nur die letztlich übergreifende Instanz, die im Zweifel mit Gewalt den Frieden durchsetzt. Da gibt es vor allem keine gegenseitige Anerkennung der verschiedenen Prägungen, Interessen und Ziele. Das ist ja auch zu verstehen, wenn man die Unterschiede weit auseinander liegender Kulturen betrachtet. Nur: Das ändert nichts an der Aufgabe, miteinander – also unterschiedliche Staaten, Kulturen etc. – in Frieden leben zu müssen. Dieses Ziel hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg die UNO gestellt. Sie anerkannt die Gleichheit der Staaten und will, dass die Mitgliedsstaaten ihre Konflikte friedlich unter ihrem Dach lösen. Der Einsatz von Militär durch die Staaten ist nur zur Selbstverteidigung erlaubt.
Wir wissen alle, dass der bloße Wunsch allein diese Organisation noch nicht zu einem durchgreifenden Erfolg verholfen hat. Aber die Idee war in der Welt: Konflikte friedlich nach den Regeln eines Rechts zu lösen. Und diese Idee ist nicht nur nicht wieder aus der Welt zu kriegen, sie verlangt auch immer wieder nach Bestätigung, nach Durchsetzung.
1.2 Die Charta von Paris 1990
Wenn es um Frieden im Europa der Zeit nach dem Kalten Krieg geht, dann wird der Anfang von den beteiligten europäischen Staaten mit der Charta von Paris gesetzt. Dieses Dokument wurde am 21. November 1990 von den Mitgliedsstaaten der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, also allen damals existierenden Staaten in Europa, den USA und Kanada unterzeichnet. Mit ihm sollten die Grundlagen für ein Europa der Gemeinsamen Sicherheit gelegt werden, für die Staaten des Westens, des Ostens und die neutralen Staaten. Später entstandene Staaten sind in den Text eingetreten. Aber in unserer Öffentlichkeit ist dieser Text damals erst übersehen, dann vergessen worden.
Dieses Dokument klärt die Grundlagen eines gemeinsamen Friedens in verschiedenen Dimensionen:
Diese Prinzipien:
- Die Staaten haben ein demokratisches politisches System, sie bauen auf Menschenrechten auf, sie sind als Rechtsstaaten organisiert, ihre Grundlage sind Marktwirtschaften. So sollten die politischen und wirtschaftlichen Systeme miteinander vereinbar/kompatibel gemacht werden.
- Es soll ein europäisches System der gemeinsamen Sicherheit aufgebaut werden. „Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht,werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.“
- Die Bedeutung der nationalen Minderheiten wird hervor gehoben: „Wir sind entschlossen, den wertvollen Beitrag nationaler Minderheiten zum Leben unserer Gesellschaften zu fördern, und verpflichten uns, deren Lage weiter zu verbessern. Wir bekräftigen unsere tiefe Überzeugung, daß freundschaftliche Beziehungen zwischen unseren Völkern sowie Friede, Gerechtigkeit, Stabilität und Demokratie den Schutz der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität nationaler Minderheiten und die Schaffung von Bedingungen für die Förderung dieser Identität erfordern. Wir erklären, daß Fragen in bezug auf nationale Minderheiten nur unter demokratischen Bedingungen befriedigend gelöst werden können. Ferner erkennen wir an, daß die Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten als Teil der allgemein anerkannten Menschenrechte uneingeschränkt geachtet werden müssen.“
Die Demokratie, wie wir sie kennen, ist der beste bislang bekannte Schutz vor Gewalt und Krieg im Inneren eines Staates.
Unser westeuropäisches Konzept von Demokratie wird aber auf einen Nationalstaat bezogen: Die Angehörigen dieses Staates stammen voneinander ab, jedenfalls nach ihrer Selbsteinschätzung, benutzen dieselbe Hoch-Sprache, haben oft dieselbe Religion.
Deshalb ist bei uns der Minderheitenschutz, der in der Charta mehrmals erwähnt wird, von besonderer Bedeutung: Die Charta hat hier, wie es scheint, das Ende des Ersten Weltkriegs im Blick: Jede Nation, jedes Volk sollte damals (mit dem US-Präsidenten Wilson) ihren/seinen eigenen Staat haben. Jedoch: Weil (nicht nur) im Südosten und im Osten Mitteleuropas die Völker durcheinander wohnen, waren Mord und Totschlag die Folge, jedenfalls dann, wenn nationalistische Politik sich einmischte14. Nation, Volk und Staat können dort nicht identisch gemacht werden. Es gibt nur die Möglichkeit, die verschiedenen Ethnien, Minderheiten, kulturell, sprachlich, religiös gemeinsam unter einem staatlichen Dach leben zu lassen.
(So ganz hat die Charta das Problem nicht gelöst: Sie kennt immer noch die Unterscheidung zwischen der einen Nation, die Eigentümerin des Staates ist, und den Minderheiten, versucht die Schwäche dieser Ungleichgewichtigkeit(en) jedoch durch die Verankerung der Minderheitenrechte in den individuellen Grundrechten abzumildern.)
Die Staaten verpflichtet sich in der Charta, nach neuen Formen der Streitbeilegung zu suchen und sie zu instutionalisieren, neue Einrichtungen im KSZE-Prozess zu schaffen. Die Sicherheit jedes Staates wurde unteilbar mit der Sicherheit aller verbunden, die Sicherheit aller Staaten mit der Sicherheit jedes einzelnen Staates. Institutionelle Regeln sollten später geschaffen werden, der Phantasie waren keine keine Grenzen gesetzt.
Der Text der Charta enthält aber auch hier folgenschwere Unklarheiten: Jeder Staat sollte über seine Sicherheit selbst entscheiden können, gleichzeitig sollte jeder auf jeden Rücksicht nehmen. Was denn nun: Soll jeder tun und lassen dürfen, was er will? Oder muss es einen ständigen Prozess des Aushandelns geben, in dem jeder auf jeden anderen Rücksicht zu nehmen hat. Und was passiert, wenn die einen gar nicht Rücksicht nehmen wollen, haben dann die anderen ein Veto-Recht?
Dennoch: Die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden in Europa schienen gelegt.
2 Der verzockte Friede
2.1 Nach Bundeskanzler Scholz
Zuerst die Sicht des Bundeskanzlers in einem Text für „Foreign Affairs“15:
Die russische Führung jedoch erlebte die Auflösung der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Paktes ganz anders als die politische Führung in Berlin und anderen europäischen Hauptstädten und zog daraus auch gänzlich andere Schlüsse. Anstatt den friedlichen Sturz der kommunistischen Herrschaft als Chance für mehr Freiheit und Demokratie zu begreifen, bezeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin diesen als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Die wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen in Teilen des postsowjetischen Raums in den 1990er-Jahren verschärften das Gefühl von Verlust und Schmerz nur noch weiter, das viele Russinnen und Russen bis heute mit dem Ende der Sowjetunion verbinden.
In diesem Umfeld schließlich begannen autoritäre und imperialistische Bestrebungen wieder aufzuleben. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hielt Putin eine aggressive Rede, in der er die regelbasierte internationale Ordnung als bloßes Werkzeug amerikanischer Vorherrschaft brandmarkte. Im Jahr darauf führte Russland Krieg gegen Georgien. Im Jahr 2014 besetzte und annektierte Russland die Krim und entsandte Truppen in Teile der im Osten der Ukraine gelegenen Region Donbas – unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts und Moskaus eigener vertraglicher Verpflichtungen. In den Folgejahren untergrub der Kreml Rüstungskontrollverträge und baute seine militärischen Fähigkeiten aus, vergiftete und ermordete russische Dissidentinnen und Dissidenten, ging hart gegen die Zivilgesellschaft vor und intervenierte in einem brutalen militärischen Einsatz zugunsten des Assad-Regimes in Syrien. Schritt für Schritt schlug Putins Russland einen Weg ein, der das Land von Europa und von einer auf Zusammenarbeit beruhenden Friedensordnung immer weiter entfernte.
Das Imperium schlägt zurück
In den acht Jahren nach der rechtswidrigen Annexion der Krim und dem Beginn des Konflikts im Osten der Ukraine konzentrierten sich Deutschland und seine europäischen und internationalen Partner in der G7 darauf, die Souveränität und politische Unabhängigkeit der Ukraine zu sichern, eine weitere Eskalation durch Russland zu verhindern und den Frieden in Europa wiederherzustellen und zu bewahren. Dies sollte mit einer Mischung aus politischem und wirtschaftlichem Druck erreicht werden, der Sanktionsmaßnahmen in Bezug auf Russland mit Dialog verband. Gemeinsam mit Frankreich engagierte sich Deutschland im sogenannten Normandie-Format, das in den Minsker Vereinbarungen und dem entsprechenden Minsker Prozess mündete, durch die Russland und die Ukraine zu einer Waffenruhe und einer Reihe weiterer Schritte aufgerufen wurden. Trotz Rückschlägen und fehlendem Vertrauen zwischen Moskau und Kiew hielten Deutschland und Frankreich den Prozess aufrecht. Doch ein revisionistisches Russland machte diplomatische Erfolge unmöglich.Russlands brutaler Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 markierte schließlich den Beginn einer grundlegend neuen Realität: die Rückkehr des Imperialismus nach Europa. Russland bedient sich dabei einiger der grausamsten militärischen Methoden des 20. Jahrhunderts und bringt unsägliches Leid über die Ukraine. Abertausende ukrainischer Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilistinnen und Zivilisten haben bereits ihr Leben verloren; viele weitere wurden verwundet oder sind traumatisiert. Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern mussten aus ihrer Heimat fliehen und haben in Polen oder anderen europäischen Ländern Zuflucht gesucht; eine Million von ihnen sind nach Deutschland gekommen.
Man könnte jeden Satz kommentieren, um ihn zu verbessern. Darum soll es hier aber nicht gehen. Diese Sicht dürfte jene sein, die zunehmend über Massenmedien die politische Diskussion prägen wird, weil sie es soll. Man muss sie kennen, um ihre Einzelheiten gegebenenfalls einordnen zu können.
2.2 Die Nato-Osterweiterung
Allein, es was anders, es kam anders16. Bei einer KSZE-Konferenz in Budapest 1994 wurde dem russischen Präsidenten Jelzin mitgeteilt, dass der Westen (USA+Nato), die Sicherheit Europas lieber auf der Ausdehnung der Nato basieren lassen wollen. Das ist ja auch nicht so ganz unverständlich: Was man (an Sicherheit) hat, das hat man. In den Ex-Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrags sah man Russland als den Nachfolgestaat einer Besatzungsmacht, die Jahrzehnte geherrscht hatte. So verständlich die Motive, so gefährlich die chaotischen Folgen. Feindschaft gegen Russland breitete sich aus, bevor man das im Westen bemerkte. So wurde die Charta von Paris mental zerstört, bevor sie überhaupt zur Kenntnis genommen worden war.
Eine von vielen damals erwartete sofortige und umstandslose Auflösung der Nato hätte womöglich in West-Europa zu ähnlichen chaotischen Konkurrenz- und Feindschaftsverhältnissen geführt wie im Osten. Frankreich und Großbritannien hatten schließlich 1989/90 die Einheit Deutschlands noch verhindern wollen, weil sie ein zu großes, zu mächtiges Deutschland fürchteten.
Der russische Präsident Jelzin war wütend, eine umstandslose Nato-Osterweiterung wäre ein wichtiges Argument der damals noch starken Kommunisten gegen ihn gewesen. Er setzte Verhandlungen zwischen den USA, der Nato und Russland über den Beitrittsprozess durch. Das Ergebnis war die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Sie bestimmte die Nato als eine Organisation, die gemeinsam mit Russland für die Sicherheit in Europa sorgt. Jeder Staat kann Mitglied der Nato werden, aber auf dem Gebiet der neuen Mitgliedsstaaten sollten weder konventionelle noch nukleare Streitkräfte der Nato stationiert werden dürfen, allerdings sollte erlaubt sein, dass Nato-Truppen dort Manöver abhalten.
Mehr als eine pro-forma-Mitgliedschaft, bei der die neuen Mitgliedsstaaten zwar an den großen Nato-Konferenzen teilnehmen können und ihre Rüstung an der der Nato orientieren können, aber ansonsten ein spannungsfreies Gebiet bilden, ist dem Text nicht zu entnehmen. Der Text scheint festzulegen, wie ein Bündnis, in dem es viele kleine Staaten gibt, und ein mächtiger Staat, der nicht dem Bündnis angehört, ein Europa der gemeinsamen Sicherheit gestalten.
Allerdings fielen damals schon Text und politische Absicht auseinander. Weil die osteuropäischen Staaten den Schutz der Nato vor Russland wollten, war also dennoch ein Stück Konfrontation gesetzt. Das ergibt sich schon daraus, dass Stationierungsvorbehalte ausgesprochen werden. Freunden wäre egal, wer was wo stationiert.
„Die Mitgliedstaaten der NATO wiederholen, dass sie nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, noch die Notwendigkeit sehen, das Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern – und dazu auch in Zukunft keinerlei Notwendigkeit sehen. Dies schliesst die Tatsache ein, dass die NATO entschieden hat, sie habe nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass, nukleare Waffenlager im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten einzurichten, sei es durch den Bau neuer oder die Anpassung bestehender Nuklearlagerstätten.“
Als dann noch die USA völkerrechtswidrig Krieg gegen den Irak begannen, einen alten Bundesgenossen der Sowjetunion und Russlands, verlangte Putin in eine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 200717, die damals als sensationell-aggressiv empfunden wurde18, eine gleichberechtigte Beachtung der Interessen Russlands. Sonst würde Russland seine Interessen auf seine Weise durchsetzen. Man war erstaunt, hat das damals aber nicht wirklich ernst genommen.
„Ich bin überzeugt, dass der einzige Mechanismus zur Entscheidung über die Anwendung von Gewalt als letzte Maßnahme nur die UN-Charta sein darf. In diesem Zusammenhang habe ich auch nicht verstanden, was kürzlich der Verteidigungsminister Italiens gesagt hat, oder er hat sich unklar ausgedrückt. Ich habe jedenfalls verstanden, dass die Anwendung von Gewalt nur dann als legitim gilt, wenn sie auf der Grundlage einer Entscheidung der NATO, der EU oder der UNO basiert. Wenn er das tatsächlich meint, dann haben wir verschiedene Standpunkte. Oder ich habe mich verhört. Legitim ist eine Anwendung von Gewalt nur dann zu nennen, wenn ihr ein UNO-Beschluss zu Grunde liegt. Und man darf die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen. Und wenn die UNO wirklich die Kräfte der internationalen Gemeinschaft vereint, die tatsächlich auf Ereignisse in einzelnen Staaten reagieren können, wenn wir uns von der Nichtbeachtung internationalen Rechts abkehren, dann kann sich die Situation ändern. Im anderen Fall gerät die Situation nur in eine Sackgasse und es häufen sich die schweren Fehler. Zugleich muss man erreichen, dass das Völkerrecht universalen Charakter erhält, sowohl im Verständnis, wie auch in der Anwendung der Normen. …
In Bulgarien und Rumänien entstehen so genannte leichte amerikanische Vorposten-Basen mit jeweils 5000 Mann. Das bedeutet, dass die NATO ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen heranbringt, und wir, die wir uns streng an den Vertrag halten, in keiner Weise auf dieses Vorgehen reagieren.
Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? …
Wir hören sehr oft, auch ich persönlich, von unseren Partnern, auch den europäischen, den Aufruf an Russland, eine noch aktivere Rolle in den Angelegenheiten der Welt zu spielen.
In diesem Zusammenhang gestatte ich mir eine kleine Anmerkung. Man muss uns kaum dazu ermuntern oder drängen. Russland ist ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte und fast immer hatte es das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik führen zu können.
Wir werden an dieser Tradition auch heute nichts ändern. Dabei sehen wir sehr genau, wie sich die Welt verändert hat, schätzen realistisch unsere eigenen Möglichkeiten und unser Potenzial ein. Und natürlich möchten wir gerne mit verantwortungsvollen und ebenfalls selbstständigen Partnern zusammenarbeiten am Aufbau einer gerechten und demokratischen Welt, in der Sicherheit und Aufblühen nicht nur für Auserwählte, sondern für alle gewährleistet ist.“
Es folgte 2008 der Angriff georgischer Truppen gegen russische, nach dem Georgien zur Nato eingeladen worden war, während die US-Armee dort ein Manöver abhielt. Russland besiegte Georgien, die Nato kam nicht zu Hilfe.
Russland zeigte damit, dass es bereit ist, Gewalt anzuwenden, wenn aus dem Westen heraus grundlegende Interessen Russlands verletzt werden (oder das, was Russland dafür hält). Damals schon zeigte sich ein westliches Reaktionsmuster, das sich bis in die Gegenwart durchzieht: Nicht ernst nehmen, was Russland sagt (und anschließend auch macht, wenn es das als notwendig ansieht), aber gleichzeitig erstaunt oder entsetzt sein, wenn es reagiert, wie angekündigt. Nicht auf Augenhöhe mit Russland reden, aber dann, wenn es schief läuft, Russland die Schuld geben.
2.3 Die Ukraine – 2014
Ein Sprung:
2013/14 wurde international um die bündnispolitische Ausrichtung der Ukraine gekämpft, die Charta von Paris war in der Diplomatie und in der Öffentlichkeit schon längst vergessen. Der politische Teil des Textes der Nato-Russland-Grundakte auch.
Die Ukraine hatte in ihrer Verfassung die Aussage, sie sei bündnisfrei. Damit reflektierte sie u.a., dass sie einerseits auf den russischen Markt orientiert war, andererseits Anschluss an die wirtschaftlichen Entwicklungen des europäischen Westens suchte. Man nannte das eine „multivektoriale Außenpolitik“. Diese Außenpolitik passte zu einem Europa der gemeinsamen Sicherheit.
Aber die Ukraine war damals schon ein sehr unglückliches Land: Einst eines der technischen Zentren der Sowjetunion, mit einer in vielen Bereichen auch international leistungsfähigen Industrie, wurde sie nach 1991 zum ärmsten Land Europas (im BruttoInlandsProdukt pro Kopf), herunter gewirtschaftet, beherrscht von konkurrierenden Oligarchen/Kleptokraten, unter denen sich mal die einen, mal die anderen durchsetzten19.
Obendrein wurde sie noch durch politisch-kulturelle Auseinandersetzungen geprägt, in denen ein (west-)ukrainischer Nationalismus20 gegen einen russisch orientierten Osten stand21 (und immer noch steht). So lange diese Kräfte sich irgendwie die Waage hielten, war immerhin Frieden. Diesen Zusammenhang hat die westliche Ukraine-Politik damals ignoriert und ignoriert ihn bis heute. Als 2014 die westliche Richtung samt (west-)ukrainischem Nationalismus in Kiew die Macht übernahm, war die Existenz des Staates sofort gefährdet22.
Mit der Nato-Osterweiterung und den Kriegen der USA im Nahen Osten nach dem September 2001 ging der positive Impuls der Charta von Paris allmählich verloren.
Für Russland war (und ist) vor allem der Flottenstützpunkt Sewastopol von entscheidender, nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ohne Sewastopol gibt es keine russische Mittelmeerflotte, ohne diese Flotte keinen russischen Einfluss im Nahen Osten, insbesondere in Syrien. Mag sein, dass diese Bedeutung des russischen Marinehafens für den Krieg in Syrien damals für die USA von besonderem Interesse war.
Russland hatte in Georgien schon deutlich gemacht, dass es bei Militärangelegenheiten, die seinen Einfluss betreffen, sehr schnell ein rote Linie überschritten sieht und hart zuschlägt. Dieser Kriegshafen gehört zu den elementaren Geltungsansprüchen Russlands. Unvorstellbar für Russland, dass es den Hafen verliert.
Der Machtkampf in der Ukraine hatte deshalb von vornherein eine gefährliche außenpolitische Dimension. – Hier gab es Fehlwahrnehmungen: Irgendwie hielten manche im Westen Russland für einen letztendlich doch gutmütigen Trottel, der – wie 1989ff – nachgibt, wenn die Lage ernst wird.
Aber dann wurde in Kiew eine neue Regierung der Ukraine, mit finanzieller, organisatorischer und propagandistischer Unterstützung des Westens – ein völkerrechtswidriger Eingriff in die inneren Angelegenheiten – installiert. Sie war zwar gegen die Regeln der Verfassung an die Macht gekommen, wurde aber dann von dem angeblich so regelfixierten Westen sofort anerkannt, um sie zu stützen – in Vollendung des Eingriffs in die inneren Angelegenheiten und der Sicherung seines Resultats – , während (und weil?) diese Regierung von der Kündigung des Sewastopol-Vertrags sprach.
Nachträglich scheint es so, dass jedenfalls im westlichen Europa niemand unter den Politikern des Westens damals über Sewastopol gründlich nachgedacht hat23. Man hätte zu dem Schluss kommen müssen, dass, wie immer die Machtkämpfe in und um die Ukraine ausgehen, Russland Sewastopol wird behalten wollen, und sei es mit dem Einsatz von Militär.
Und so kam es denn auch. Russland hatte den Vorteil, dass große Teile der Bevölkerung der Krim sich lieber an Russland orientierten als an der neuen, von antirussischen Nationalisten bestimmten Regierung in Kiew. Aber damit war die ethnische Balance in der ganzen Ukraine zerbrochen.
Der Übergang der Krim nach Russland war schnell organisiert, zumal die ukrainische Marine, so weit sie auf der Krim stationiert war, zum späteren Feind Russland überlief ebenso wie die ukrainischen Soldaten, die von der Krim stammten. Wenn auch die Abstimmung auf der Krim über den Anschluss nach ukrainischem Recht illegal war, ihre Wirkung und ihre Folgen waren eindeutig24.
Aber die Veränderung von Grenzen ist völkerrechtlich nur in Übereinstimmung aller beteiligten Staaten möglich.25 Dass die neue Regierung nicht regelkonform an die Macht gekommen ist, sie nach innerstaatlichem Recht als illegal angesehen werden konnte, ändert nichts an ihrer völkerrechtlichen Bedeutung: Ein Staat wird von jener Institution vertreten, die in ihm die Macht ausübt, wie immer sie zustande gekommen ist26.
Die westliche Politik des RegimeChanges war völkerrechtswidrig, ein fortgesetzter Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. Der Anschluss der Krim an Russland verletzte das Prinzip der territorialen Integrität der Staaten.
Böses erzeugte Böses, irgendwann ist es auch egal, wer angefangen hat.
In anderen Teilen des russischen Ostens der Ukraine gab es Anti-Maidan-Aufstände27, örtliche Politiker sprachen der neuen Regierung die Legitimation ab, in manchen Städten wurden von Volksbewegungen neue Politiker eingesetzt. Es ging um die Sicherung / Wiederherstellung der legalen verfassungsmäßigen Ordnung und der ethnisch-politischen Balance der Ukraine.
Die neue Regierung beschloss am 14. April 2014, die aufstandsähnliche Situation im Osten mit dem Militär in den Griff zu kriegen, sie schickte Soldaten28. Die damalige ukrainische Armee war aber klein, schwach, desorientiert, durch Desertion bestimmt. Ich erinnere mich noch an Tagesschau-Bilder, auf denen alte Frauen junge Männer eigenhändig von gepanzerten Fahrzeugen holten und sie nach Hause schickten. Dennoch gelang es dieser Armee, den größten Teil des Aufstandsgebietes wieder einzunehmen. Ganz im Osten gab es schwere militärische Gefechte, bei denen die Aufständischen stand hielten. Das wird auf eine russische Einmischung/Unterstützung zurück zu führen sein, was schon deshalb plausibel ist, weil Panzer nicht auf einmal einfach so da sind29. Völkerrechtlich war dieser Eingriff Russlands in den Aufstand illegal, allerdings mit dem Schutz von Minderheiten, wie die Charta von Paris sie vorsieht, politisch begründbar30.
Dieser Teil der damaligen Ukraine-Krise endete mit den Abkommen von MinskI und II31 (Ukrainische Regierung, „Volksrepubliken“, Russland unterzeichneten unter Beteiligung Deutschlands und Frankreichs), nach denen mittels einer Reform der ukrainischen Verfassung die aufständischen Gebiete eine besondere Autonomie innerhalb der Ukraine bekommen sollten32:
„11. Durchführung einer Verfassungsreform in der Ukraine und Inkrafttreten einer neuen Verfassung bis Ende 2015. [Diese Verfassung muss] als Schlüsselelement eine Dezentralisierung (unter Berücksichtigung der Besonderheiten einzelner Gebiete der Oblaste Donezk und Lugansk) aufweisen, die mit den Vertretern dieser Gebiete abgestimmt ist, ebenso die Verabschiedung eines ständigen Gesetzes über den besonderen Status einzelner Gebiete der Oblaste Donezk und Lugansk in Entsprechung mit Maßnahmen, die in den Anmerkungen aufgeführt sind¹, bis zum Ende des Jahres 2015.“
Dieses Abkommen hätte, wäre es verwirklicht worden, den Konflikt zwar (nur) einfrieren können, aber damit immerhin das Schießen beenden können. Es knüpfte an die überkommene ethnopolitische Balance in der Ukraine an, jedoch durch Trennung der Gruppen. Ethnische Reinheit schimmert hindurch. In der nun faktisch geteilten Ukraine – Krim und Luhansk/Donezk einerseits, der große, völkerrechtlich anerkannte Staat Ukraine andererseits – lebten die Menschen sich auseinander.
Die ukrainische Regierung hätte die Regelungen des Abkommens in Kiew im Parlament durchsetzen müssen, was zuerst aufgrund des nationalistischen Widerstands nicht gelang, dann nicht mehr versucht wurde33. Es soll später die Absicht der ukrainischen Regierung gewesen sein, die Verhandlungen um die Verwirklichung des Abkommens so lang wie möglich hinaus zu zögern, um Zeit für den Aufbau einer neuen ukrainischen Armee und die Befestigung ihrer Teile des Donbass zu gewinnen, so der damalige ukrainische Präsident Poroschenko34:
Wir haben alles erreicht, was wir wollten.
Unser Ziel war es, erstens die Bedrohung zu stoppen oder zumindest den Krieg zu verzögern, um acht Jahre für die Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums und den Aufbau starker Streitkräfte zu sichern.
Die westlichen Beteiligten dieses Vertrags – Frankreich und Deutschland – übten dazu keinerlei Druck auf Kiew aus, sie waren damit einverstanden, dass die Erfüllung des Abkommens verschleppt wurde, es war ja auch alles sehr schwierig35.
Der Ausgang dieser Krise war also ein Patt: Russland behielt die Krim, damit Sewastopol und so sein entscheidendes militärisches Interesse. Zugleich verlor es an Einfluss in der Ukraine: Russen, die in Gebieten leben, auf die die ukrainische Regierung nicht mehr anerkennen, sind in der Ukraine, in Kiew als politische Kraft nicht mehr präsent. Zusätzlich: Ein russischsprachiger Ukrainer muss sich nicht gleich als Russe verstehen, in der Schweiz spricht man auch Deutsch, die Deutschsprachigen sehen sich trotzdem nicht als Deutsche. Je weniger Russen/Russischsprachige in der Rest-Ukraine, desto größer der Einfluss der (west-)ukrainischen Nationalisten36.
Der Westen hatte zwar einen Verbündeten mehr gewonnen, konnte ihn aber nicht so recht integrieren. Die Mitgliedschaft in der EU konnte 2014ff nicht angeboten werden, dazu war das Land innen- und wirtschaftspolitisch in einem zu miserablen Zustand; eine Mitgliedschaft in de Nato war und ist aufgrund des Kriegs erst recht nicht möglich.
2014/15 wäre Gelegenheit gewesen, inne zu halten37: Was hat das alles noch mit der Charta von Paris zu tun, mit dem einst so beschworenen Ziel eines Europas der gemeinsamen Sicherheit? Wäre nicht der Zeitpunkt für eine hochrangige Europäische Sicherheitskonferenz gewesen?
2.4 Die Ukraine – nach 2014
Aber so mancher im Westen schien zu meinen, es gäbe nun genau mit dem weiter anhaltenden Krieg im Osten der Ukraine ein Druckmittel gegen Russland. Wobei das Ergebnis noch dazu unterschiedlich eingeschätzt wurde: Die einen sahen es als den Beginn einer zunehmenden Konfrontation, die anderen meinten, es werde schon nicht so schlimm werden, mit einer neuen Erdgasleitung – Nordstream2 – müsse man deshalb nicht warten, sondern könne sie zügig bauen. So bildete sich ein sich langsam vertiefender Gegensatz im Westen heraus.
Die deutsche Politik begab sich in eine Zwickmühle, die sie letztlich nicht auflösen konnte: Sie machte die Anti-Russland-Politik der USA und der osteuropäischen Nationalisten zwar nur halbherzig mit, aber sie machte sie mit. Andererseits gehörte insbesondere nach der Energiewende langfristig billiges russisches Erdgas in großen Mengen zu den Grundlagen der deutschen Wirtschaft. Genau dieses Gas sollte sie aber nach dem Willen ihres Nato-„Partners“ USA nicht bekommen, der auch mit illegalen Maßnahmen gegen deutsche und internationale Firmen vorging, die sich am Bau von Nordstream2 beteiligten.
Die deutsche Politik hätte sich klipp und klar entscheiden müssen: Im Interesse der deutschen Wirtschaft für russisches Erdgas gegen die Konfrontationspolitik der USA und der osteuropäischen Nachbarn oder im Gegenteil dafür, mit den USA und ihren Verbündeten die Konfrontation mit Russland wegen der Ukraine zu verschärfen und sich rechtzeitig nach anderen Energiequellen umzusehen.
Vielleicht hätte die Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Spagat noch einige Zeit durchgehalten, ihre Nachfolger waren damit hoffnungslos überfordert, sofern sie nicht eh schon auf der anderen Seite standen. Beides gleichzeitig war jedenfalls nicht länger möglich.
Nicht die Energiepolitik der Merkel-Regierungen war falsch, wie man heute gerne behauptet. Es fehlte vielmehr am Willen (und auch an der Kraft?), sie mit einer anderen Russland-Politik gegenüber den USA und deren Unterstützern durchzusetzen.
Die Ukraine war 2015 faktisch territorial kleiner als 2013. Die Krim gehört seitdem praktisch zu Russland, wenn auch ohne völkerrechtliche Anerkennung. Im Donbass gibt es zwei Territorien, die sich „Volksrepubliken“ nennen: Luhansk und Donezk.
Die Ukraine stellte der Krim das Wasser ab, Durstende kommen bekanntlich schneller nach Haus. MinskII wurde nicht umgesetzt38, die zu den Volksrepubliken gehörenden Teile lagen unter zwar nicht mehr sehr intensivem, aber regelmäßigem Beschuss.
In der Ukraine schritt die „Ukrainisierung“ voran, vor allem zu erkennen an den öffentlichen Manifestationen einer alten/neuen Geschichtsdeutung, Bandera überall. Irgendwelche Schritte zur Versöhnung, zur Rückkehr in friedliche Verhältnisse des Ausgleichs zwischen dem Westen und dem Osten der Ukraine gab es nicht39. Stattdessen wurde Schritt für Schritt das Russische aus der Öffentlichkeit verdrängt. Ein Ausgleich zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen war definitiv nicht mehr Teil der ukrainischen Politik. Allein damit war die Ukraine ein Land in Spannung.
Besonders bekannt ist das Sprachengesetz der Ukraine40. Die russische Sprache wird nicht verboten, aber ihre Benutzung doch erschwert. Im öffentlichen Leben soll möglichst nur noch Ukrainisch gesprochen und geschrieben werden. Russisch-sprachige Zeitungen müssen gleichzeitig eine ukrainische Ausgabe herausbringen, was sie wirtschaftlich überforderte, überfordern sollte. Schon allein diese Bestimmung zeigt, dass dieses Gesetz weder mit den Grundrechtsbestimmungen41 noch mit dem Minderheitenschutz42 der Charta von Paris zu vereinen ist.
Gleichzeitig wurde die ukrainische Armee in intensiver Zusammenarbeit mit Nato-Staaten neu aufgestellt. Das ermöglichte es der ukrainischen Regierung, im März 2021 einen Plan zur Rückholung der Krim zu formulieren. Etwas versteckt finde man dort, dass die ukrainische Regierung dazu auch militärisch vorgehen will43. Tags darauf regelte ein Erlass des Präsidenten, dass die ukrainische Armee als Nato-konforme Armee zu entwickeln44.
In Deutschland nahm man diese Entwicklung praktisch nicht zur Kenntnis. Sie sind bis heute an keiner Stelle Teil der politischen Diskussion.
Die Krim und die „Volksrepubliken“ dagegen wurden von Russland an sich selbst angepasst, passten sich selbst Russland an.
Man kann Putins Text „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“45 auch als Antwort auf diese Entwicklung lesen. Es ist schwer, diesen Text angemessen wieder zu geben. Er wird meist als Absage Putins an einen ukrainischen Staat und an eine von der russischen unterschiedene ukrainische Kultur verstanden. Es kommt darauf an, was man unter diesen Begriffen versteht. Wer die gegenwärtige „Ukraine“ als alternatives Projekt zum gegenwärtigen Russland versteht, hat mit solch einem Vorwurf recht. Man kann den Text aber auch als Mahnung und Warnung lesen: Russland und die Ukraine haben eine gemeinsame Geschichte, fast die gleiche Kultur, es wäre völlig normal, wenn sie sich miteinander verständigen und als gute Nachbarn, jeder für sich, nebeneinander leben. Putin nimmt das Verhältnis von Deutschland und Österreich als Vergleich, so soll das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine sein. Die Ukraine darf sich jedoch nicht vom Westen gegen Russland in Stellung bringen lassen. Das würde fürchterlich werden.
Das politische Klima zwischen Russland einerseits, der Ukraine und dem Westen unter Führung der Nato wurde im Laufe des Jahre 2021 immer schärfer. Putin wollte nur noch mit Biden sprechen, die anderen westlichen Gesprächspartner nahm er demonstrativ nicht ernst. Zuerst sah es auch so aus, als ob die beiden Präsidenten sich auf eine friedliche Lösung einigen könnten. (Unsereins bekommt ja nicht alles mit, was gesagt wird.)
Russland baute militärische Drohungen auf, die man insbesondere in den USA sehr genau zur Kenntnis nahm46.
Im Satelliten-Zeitalter bleiben keine Bewegungen am Boden unbemerkt. Daraus kann man folgern, dass sie bemerkt werden sollen. Die USA stellten Russland daraufhin zur Rede. Putin bestätigte diese Informationen. Die USA wussten also, dass die Fortführung ihrer Ukraine-Politik zu einem russischen Angriff auf die Ukraine führen konnte. Sie änderten aber nicht diese Politik, sondern drohten Russland mit einem hohen Preis
In der „Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine“ vom November 202147 stimmten die USA den ukrainischen Plänen letztlich zu und rüstete die ukrainische Armee auf48, damit diese ohne Nato-Unterstützung einen Krieg mit Russland bestehen kann, wie auch immer er ausbricht.
Die (West-)Europäer trauten den Berichten über diese Pläne nicht, sie wollten stattdessen weiter verhandeln. Nur hatten sie nichts im Angebot, weder über Verhältnis Ukraine / Nato noch über die Ostukraine / MinskII. Sie konnten ihren Optimismus nur daraus schöpfen, dass die Nachrichtendienste über einen russischen Angriffsplan sprachen, der keine eigene Ratio zu haben schien49.
Russland verschärfte den Ton. Es forderte ultimative Sicherheitsgarantien von den USA und von der Nato. Der Kern waren das Verhältnis der Ukrainer zur Nato. Es sollte zugesagt werden, dass die Ukraine weder rechtlich noch faktisch Teil der Nato wird. Russland berief sich dabei auf die Zusagen der 1990er Jahre: Die Nato solle nicht nach Osten ausgeweitet werden50 und auf die „Europäische Sicherheitscharta“ von 199951. Auch in diesem Papier stehen die Bestimmungen, nach denen zum einen jeder Staat seine Sicherheitspartnerschaften/-bündnisse frei bestimmen kann und zum anderen die Sicherheit eines jeden Staates mit der jedes anderen Staates untrennbar verbunden ist, nebeneinander, ohne dass ein Verfahren bei der Regelung von Konflikten vorgesehen wäre. Dass Russland ein Recht hatte, konsultiert zu werden, kann jedoch schwer bestritten werden.
Diese Forderung wurde von beiden Adressaten als unverhandelbar abgelehnt. Ansonsten könne man über alles reden, wurde gesagt.
Die Antworten wurden als brüsker Zurückweisung verstanden. Danach gab es noch Treffen erst den zwischen Präsident Putin und Macron und dann zwischen Präsident Putin und Bundeskanzler Scholz. Weder in der Nato-Frage noch bei der Realisierung von MinskII bewegte sich etwas. Scholz war vor dem Treffen in Moskau in Kiew bei Präsident Selenskiy, von dort hat er in Sachen Nato nichts mitgebracht und wegen MinskII nur vage Versprechen. Merkwürdigerweise schien er auf dem Rückflug die gute Laune dessen zu haben, der ein großes und gutes Werk vollbracht hat.
In Deutschland kam ein Aufruf im letzten Moment zu einer Änderung der Nato-Politik, der vorwiegend aus der (allerdings meist schon pensionierten) Diplomatie kam und aus dem Militär (ebenfalls pensioniert), denn doch zu spät. Er schlug einen grundlegenden Neubeginn der Verhandlungen auf der Basis der alten – und auch bewährten – KSZE-Regeln vor52. – Wenn Krieg und Krise vorbei sein werden, wird man wieder auf solche Gedanken zurück greifen müssen, wenn der neue Friede dauerhaft sein soll.
Die Autoren und Unterzeichner wurden ausgelacht. Aber man muss festhalten: Genau dies wäre die richtige Politik im Moment vor der höchsten Spannung gewesen. Der Krieg hätte auf diese Weise verhindert werden können.
2.5 Der Krieg 2022
Keine 10 Tage später begann der Krieg53, genauer: Russland eskalierte den schon vorhandenen Krieg durch weitreichende Angriffe in das ukrainische Territorium / Hoheitsgebiet hinein.
Vorher hat Putin die beiden „Volkrepubliken“ als souveräne gleichberechtigte Staaten anerkannt und mit ihnen Beistandsverträge geschlossen. So sollte eine völkerrechtliche Legitimation erzeugt werden. Jedoch: Diese beiden Staaten/staatsähnliche Gebilde sind international nicht anerkannt, sie sind nicht Mitglieder der UNO und würden es wohl auch nie werden. Eine Rechtfertigung des Kriegs gegen die Ukraine mit Art. 51 UNO-Charta trägt nicht. – Völkerrechtlich ist keine Begründung möglich54.
Vielleicht kann man die Eröffnung dieses Kriegs, der Jurist muss ihn einen Angriffskrieg nennen, politisch begründen, mindestens verstehen? Putin rechtfertigte die „militärische Spezialoperation“55:
Ihr Ziel ist es, die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren von dem Kiewer Regime misshandelt und ermordet werden. Und zu diesem Zweck werden wir uns bemühen, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren und diejenigen vor Gericht zu stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich der Bürger der Russischen Föderation, begangen haben.
Gleichzeitig sehen unsere Pläne nicht die Besetzung ukrainischer Gebiete vor. Wir haben nicht die Absicht, jemandem etwas mit Gewalt aufzuzwingen.
Die Formulierung „militärische Spezialoperation“56 lässt zunächst einen kurzen Vorgang vermuten. Bei einer „Operation“ der Polizei wird unter der Anleitung der Staatsanwaltschaft ein Räubernest ausgehoben. So etwas dauert keine zwei Tage. Vermutlich war der Krieg so gemeint:
- Einnahme von Kiew, um die Regierung auszuwechseln,
- vollständige Eroberung / Befreiung der Oblaste Luhansk und Donezk,
- Einnahme von Cherson, um die Krim zu sichern und auch mit Wasser versorgen zu können,
- Vorstoß nach Saporischje, um eine Landverbindung zwischen der Krim und dem Donbass zu gewinnen.
Punkt 1 misslang völlig, Punkt 2 bislang nur teilweise, die Punkte 3 und 4 waren erfolgreich. Der ukrainischen Regierung gelang jedoch die Stabilisierung der Lage, was kaum jemand erwartet hatte, weder in Moskau noch in den Hauptstädten des Westens.
Nun dauert der Krieg acht Monate und ein Ende ist nicht in Sicht. Zielte die Wortwahl „Spezialoperation“ von Anfang an auf eine Täuschung oder ist der Krieg so, wie er verläuft, von Russland gar nicht gewollt, sondern die Folge falscher Einschätzungen der Lage durch Putin und seine militärischen und politischen Berater57?
Was meinen die Termini „entnazifizieren“ und „entmilitarisieren“? Sie erinnern an die vier großen „D“s der Potsdamer Konferenz von 1945: Denazifizierung, Demilitarisierung, Demonopolisierung und Demokratisierung58.
Zur Entnazifizierung gehörten in Deutschland das Verbot und die Auflösung aller NS-Organisationen, die Entfernung belasteter Personen aus dem Öffentlichen Dienst und der Leitung von Wirtschaftsunternehmen. Zusammen mit der Demokratisierung gehörte auch Re-Education dazu. Solche Maßnahmen setzten voraus, dass die Siegermächte das gesamte Territorium und den Staatsapparat beherrschten. Dass die gesamte Ukraine plus Staatsapparat mit einer einzigen Militäroperation erobert werden kann, konnte man aber nicht annehmen, selbst, wenn der Erfolg der ersten Tage größer gewesen wäre.
Entmilitarisierung hieß 1945 in Deutschland, dass die gesamte Wehrmacht unter den Oberbefehl der Allierten gestellt wurde; sie wurde entwaffnet und aufgelöst. Mit einer einzigen Militäroperation sollte ein ähnliches Ziel in der Ukraine erreicht werden? Wie sollte das denn gehen?
Dass der Terminus „militärische Spezialoperation“ womöglich doch ernst gemeint war, kann man vielleicht aus der geringen Zahl der russischen Truppen schließen. Man sagt, ein Angreifer müsse ein Mehrfaches überlegen sein, wenn er Erfolg haben wolle. Aber Putin hat eine Armee in diesen Krieg geschickt, die zahlenmäßig unterlegen war. Vielleicht hatten er und die russische Führung darauf gesetzt, dass große Teile der ukrainischen Armee sich genauso anschließen, wie es die ukrainischen Marine 2014 tat59?
„Ich muss mich auch an die Streitkräfte der Ukraine wenden.
Verehrte Kameraden! Eure Väter, Großväter und Urgroßväter haben nicht gegen die Nazis gekämpft und unser gemeinsames Vaterland verteidigt, damit die heutigen Neonazis die Macht in der Ukraine übernehmen können. Ihr habt einen Eid auf das ukrainische Volk geschworen und nicht auf die volksfeindliche Junta, die die Ukraine ausraubt und eben dieses Volk schikaniert.
Führt ihre kriminellen Befehle nicht aus. Ich fordere Euch auf, die Waffen sofort niederzulegen und nach Hause zu gehen. Um es klar zu sagen: Alle Angehörigen der ukrainischen Armee, die dieser Forderung nachkommen, werden das Kriegsgebiet ungehindert verlassen und zu ihren Familien zurückkehren können.“
Aber es muss doch bekannt gewesen sein, dass die ukrainische Armee von 2022 nicht die Armee von 2014 ist?
Das russische Verhalten vom Februar 2022 ergibt keine nachvollziehbare Logik. Da sind für zukünftige Militärhistoriker noch Unklarheiten zu lösen.
Dieser Militäreinsatz sollte „dem Schutz von Menschen dienen“. Welche Menschen sind gemeint? Die erste Möglichkeit sind jene Zivilisten, die von 2014 bis 2022 im Donbass von ukrainischen Truppen beschossen wurden, mit oft tödlichem Ausgang. Aber dann ist das Resultat nicht überzeugend: Es wird immer noch nach Donezk hinein geschossen. – Dagegen werden nun Millionen Menschen mit sicher in die Zehntausende gehende Zahl an Toten und Verletzten beschossen, die in der Ukraine außerhalb der „Volksrepubliken“ leben; sie werden zur Flucht gezwungen. Soll etwas dem Schutz von Menschen dienen, erwartet man, dass nach der Maßnahme das menschliche Leid weniger geworden ist. Hier hat es sich aber vervielfacht.
Dass Putins Kriegsziele vom 24.02.2022 so unklar/undeutlich sind, könnte daran liegen, dass er davon ausging, dass die „Spezialoperation“ in ein paar Tagen erfolgreich beendet ist und Russland dann entscheiden kann, wie es in und mit der Ukraine weiter geht. Jedoch, es kam nicht so, der Kriegsverlauf wurde von Russland zunächst zwar noch halbwegs erfolgreich gewendet, seit dem September geht es aber rückwärts, für die internationale Öffentlichkeit gab es aber keine neue politische und militärische Zielbestimmung, jedenfalls keinen Text.
Momentan ist nicht mit Gewissheit zu erkennen, wie dieser Krieg weiter verlaufen kann.
Nach allem, was man lesen konnte60, war die Ukraine in den erst Monaten in den zwei wesentlichen Momenten Bewaffnung und Personal im Nachteil. Die Ukraine kämpfte im Osten schon mit Territorialverteidigungstruppen aus der West-Ukraine, Soldaten mit der Ausbildung von einer Woche. Diese Leute haben keine Chance, eine Auseinandersetzung zu überleben. Was die Waffen angeht: Nachdem die alte Bewaffnung sowjetischen Ursprungs samt Munition verbraucht scheint, gibt es Lieferungen aus den Nato-Staaten.
Es könnte so viel sein, dass es reicht, die Front zu halten und andere Einsatzmöglichkeiten zu eröffnen. Auch die oft versprochene große Offensive ist mindestens anfänglich möglich gewesen. Bis zur Rückholung der Krim ist aber noch ein weiter Weg. Die Ukraine müsste die Luftüberlegenheit gewinnen können und mit Panzertruppen und Panzergrenadieren vorstoßen. Beides ist nicht in Sicht.
Was Russland angeht, so liest und hört man verschiedenes: Auf der einen Seite gibt es Experten, die schon mehrmals gesagt haben, dass die russischen Reserven und Material in den nächsten vierzehn Tagen erschöpft seien, spätestens aber im nächsten Monat. Nichts davon ist eingetreten. Die russische Armee selbst sagte nach den ersten Fehlschlägen, sie wollen langsam voran gehen, indem sie immer erstmal mit Artillerie das vor ihr liegende Terrain von jeglichem feindlichen Militär „säubert“, während die Zivilisten fliehen können, und danach das Gelände einnehmen will. Das mag sein oder auch nicht. Momentan kommt die russische Armee mit ihren Verbündeten aus den „Volksrepubliken“ im Donbass nicht voran. Sie verliert dagegen große Gebiete zwischen dem Donbass und Charkow und bei Cherson. Das sieht auch nicht nach einem Erfolg aus.
Die öffentlichen Stimmungen schwanken. Vor einer Woche noch, jetzt ist der 11.10., war man im Westen vom baldigen Sieg der Ukraine überzeugt und lehnte deshalb Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ab, außer Kapitulationserklärungen, heute nachdem Russland mit Raketen wieder auf die ganze Ukraine ausgeweitet hat, verlangen die einen noch mehr Eskalation gegen Russland61, andere sofortige Verhandlungen.
Der Krieg würde bei diesem Vorgehen noch lange dauern, über den Winter und weiter, wenn er nicht politisch beendet wird. Es sind duchaus noch weitere Steigerungen möglich. Russland hat merkwüdigerweise das für den Nachschub so wichtige ukrainische Eisenbahnnetz im Hinterland intakt gelassen, die russische Luftwaffe ist bislang kaum an dem Krieg beteiligt, ihre Bomberflotte könnte ganze Städte in Schutt und Asche legen. Ukrainische Angriffe, die original-russisches Territorium angreifen, gibt es bislang kaum, sie könnte ausgeweitet werden.
Folgende strategische Möglichkeiten für die zukünftige Entwicklung mag man sich denken62:
- Alles bleibt, wie es ist. Die Truppen graben sich bei begrenzter Beweglichkeit in Festungssystemen ein, beschießen sich wie in Verdun ständig gegenseitig und die Führungen hoffen, dass aus dem kleinen Geländegewinn eines Tags urplötzlich ein großer Durchbruch wird. – Das kann noch lange dauern, bis in das nächste Jahr hinein oder noch länger. – Unwahrscheinlich, denn es wird momentan von beiden Seiten eskaliert.
- Die Ukraine wird dank der Waffenlieferungen stärker und es gelingt ihr, zwischen der Krim und dem Donbass zur russischen Grenze vorzustoßen.
- Die russische Überlegenheit wird aufgrund der russischen „Teilmobilisierung“63 im Donbass stärker, die ukrainische Front wird Richtung Dnepr eingedrückt. Und dann erklärt Russland den Krieg einseitig für beendet. Er könnte dann eingefroren werden/sein. – Aber auch das kann noch über den Winter dauern.
- Diese Möglichkeit schien zeitweise nicht unwahrscheinlich: Die russische Überlegenheit wird im Donbass stärker, die ukrainische Front wird Richtung Dnepr eingedrückt, den Russen gelingt der Durchmarsch bis Lemberg. Sie setzen sofort eine neue Regierung ein. – Im Krieg kann es geschehen, dass von einem Tag zum nächsten alles anders wird, weil die langsamen Veränderungen nicht genügend gesehen wurden. Aber mit solch einem Sieg könnte Russland nicht glücklich werden, denn es würde in tief im Feindesland auf Partisanen stoßen, umgeben von Menschen, die tief von einer russlandfeindlichen Haltung geprägt sind64.
- Und obendrein kann alles ganz anders kommen …, vielleicht gelingt der Ukraine doch eine Veränderung der Verhältnisse im Süden.
- Letztlich ist auch möglich, dass aus den Nato-Staaten erst „Militärberater“65, dann Reparatur- und Wartungseinheiten66, danach irgendwann selbst Kampftruppen und Kampfflugzeuge in die Ukraine schicken.
- Jede weitere Eskalation ist möglich, die andere Seite wird das schon hinnehmen, so wird gesagt werden. Aber sie wird „antworten“.
Solche Ausgänge des Kriegs haben alle jedoch nichts mit Frieden zu tun, vielleicht mit Waffenstillständen. Frieden muss gewollt werden.
3 Zum Frieden in und mit der Ukraine
3.1 Nato und Russland – Kriegsziele?
Irgendwie will jede Seite den Krieg beenden. Was erfährt man darüber von den wichtigen Beteiligten dieses Kriegs? Damit sollen die unmittelbar am Kampf beteiligten Parteien gemeint sein und auch jene, die diese Parteien unterstützen – gemeint sind die Unterstützer der Ukraine, denn ohne die Lieferungen an Geld und Waffen wäre dieser Staat in einer sehr schwierigen Lage, wenn es ihn denn überhaupt noch gäbe.
Die Kriegsziele Russlands sind auch nicht wirklich klar. Jenen, die Putin am 24.02.2022 angab, fehlt die operative Klarheit: Was heißt das alles denn praktisch: Wo sollen Grenzen verlaufen? Wer soll wo wie regieren? Was soll für die internationalen Beziehungen gelten? Soll die Ukraine, wenn sie es will, Mitglied der EU werden dürfen oder nicht? Amtliche Texte gibt es nicht, man kann nur spekulieren.
Vermutlich kann der jüngste Anschluss der vier ostukrainischen Bezirke an Russland als Angabe des Minimmalziels gelesen werden: Die Ostukraine und die Krim als Teil Russlands. Allerdings wäre das wieder eine halbe Niederlage, wie schon 2014: Alles andere geht an die Nato67. Das Kriegsziel, den (west-)ukrainischen Nationalismus zu vernichten, ist damit so wenig zu erreichen wie die Entmilitarisierung der Ukraine. – Schon die Übernahme der Krim 2014 war (nur) eine Offensive im Rückzug: Russland konnte nicht mehr sicher sein, einen eigenen Stützpunkt in der neutralen Ukraine zu behalten, aber in dem es den Stützpunkt in seinen eigenen Machtbereich übernahm, gab es die Ukraine insgesamt auf. – So auch jetzt.
Man weiß also außer einer groben Richtung letztlich nicht wirklich, welche Ziele Russland hat68. Russland hat die Zugehörigkeit der (ex-?)ukrainischen Oblaste zum eigenen Staatsgebiet für unverhandelbar erklärt69.
Weil beide Seiten nicht wissen, was die anderen wollen, richtet sich jede Seite auf die schlechteste Möglichkeit ein.
Man müsste miteinander reden, um zu erfahren, was die andere Seite überhaupt will. Solche Gespräche sollten noch keine offiziellen Verhandlungen sein, sondern Treffen von Diplomaten aus der zweiten oder dritten Reihe, die sich ohne Protokoll irgendwo treffen, um mit dem Vertrauen ihrer Regierungen die Möglichkeiten richtiger Verhandlungen abzuklären. – Solche Gespräche könnte es irgendwo unterhalb derProtokolle zwischen den USA und Russland geben, man hört nicht von ihnen. Dass Deutschland daran beteiligt sein könnte, ist sehr unwahrscheinlich.
Man kann (möglicherweise) mit Mearsheimer70 die Entwicklung der Kriegsziele beider Seiten durch Interpretation von Äußerungen und Verhalten der beteiligen Parteien gewinnen. Beide Seiten haben bislang ihre Ziele ausgeweitet.
Sieht eine der Parteien ihre Kriegsziele gefährdet, besteht die Gefahr, dass der Krieg auch in der Breite eskaliert, die Nato-Staaten immer mehr Teil des Kriegs werden.
Zum Beispiel: Kommt es, wie viele zeitweilig annahmen, zum Durchbruch der russischen Armee im Donbass bis zum Dnepr, besteht die Gefahr, dass der ukrainische Staat zusammen bricht und Russland allein oder mit einer neuen ukrainischen Regierung die Kontrolle über die ganze Ukraine gewinnt. – Können die USA, kann der Westen einer solchen Niederlage einfach still zusehen?
Oder: Wenn auch die Ukraine die russische Armee nicht mit eigenen Kräften aus dem Land verdrängen kann, so könnte sie möglicherweise den Krieg mit Hilfe westlicher Lieferungen in einen lang andauernden Stellungskrieg verwandeln. Hinter der ukrainischen Armee könnte dabei die Wirtschaftskraft des gesamten Westens stehen71. Sollte der ukrainischen Armee nicht das begrenzte Personal ausgehen, könnte sie mit mehr und besserer Technik Russland erheblich schwächen. Der Krieg der Sowjetunion in Afghanistan hat zu ihrem Zerfall beigetragen, das könnte sich wiederholen72.
An den Plänen zur Auflösung Russlands in eine Vielzahl kleinerer Staaten wird gearbeitet73. Für Russland kann sich der Krieg zu einem Überlebenskampf entwickeln. In der gegenwärtig gültigen Atomkriegsdoktrin Russlands wird die Bedrohung des Überlebens des Staates durch konventionelle Waffen als ein Grund für den Einsatz von Atomwaffen definiert74.
Zu einem politischen Wendepunkt hätten die russisch-ukrainischen Verhandlungen im ersten Monat des Kriegs werden können. Zeitweilig schien es, als könne der Krieg am nächsten Tag mit einer Lösung aufhören, die man auch schon vor dem Krieg mit Leichtigkeit hätte erreichen können. Dem war nicht so. Aber es ist nicht klar, warum dieser Weg misslang.
Zunächst verblüffte den Fernsehzuschauer, das Tempo, mit dem Verhandlungen begannen. Schon vier Tage nach Kriegsbeginn trafen sich Delegationen. Dabei soll Russland diese Forderungen gestellt haben75:
- Weigerung (der Ukraine), in die NATO zu wechseln. Neutraler Status der Ukraine, einer der Garantien, zu denen Russland bereit ist zu werden.
- Russisch ist die zweite Staatssprache. Aufhebung aller Gesetze, die dagegen verstoßen.
- Die Anerkennung der Krim als russisch durch die Ukraine.
- Anerkennung der Unabhängigkeit der DVR und LPR durch die Ukraine innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Regionen (einschließlich der derzeit von der Ukraine kontrollierten Gebiete).
- Entnazifizierung, Verbot der Aktivitäten ultranationalistischer, nationalsozialistischer und neonazistischer Parteien und öffentlicher Organisationen, Aufhebung bestehender Gesetze zur Verherrlichung von Nazis und Neonazis.
- Entmilitarisierung der Ukraine, völlige Ablehnung offensiver Waffen.
Das war eine Umformulierung der Kriegsziele Putins vom 24.02.2022. So war es für die Ukraine natürlich nicht akzeptabel. Russland musste, auch angesichts seiner militärischen Misserfolge bei Kiew und Charkow, Zugeständnisse machen. Nach einem Bericht der Financial Times – mehr scheint es öffentlich zugänglich nicht zu geben – soll es Fortschritte gegeben haben76; eine Einigung sei jedenfalls möglich gewesen.
Die Ukraine und Russland haben erhebliche Fortschritte bei einem vorläufigen Friedensplan erzielt, einschließlich eines Waffenstillstands und eines russischen Rückzugs, wenn Kiew seine Neutralität erklärt und Grenzen für seine Streitkräfte akzeptiert, so fünf Personen, die über die Gespräche informiert wurden.
Ukrainische und russische Unterhändler diskutierten das vorgeschlagene Abkommen am Montag zum ersten Mal vollständig, sagten zwei der Personen. Der 15-Punkte-Entwurf, der an diesem Tag in Betracht gezogen wurde, würde beinhalten, dass Kiew seine Ambitionen, der NATO beizutreten, aufgibt und verspricht, keine ausländischen Militärstützpunkte oder Waffen im Austausch für den Schutz von Verbündeten wie den USA, Großbritannien und der Türkei zu beherbergen, sagten die Leute.
Die Art der westlichen Garantien für die ukrainische Sicherheit – und ihre Akzeptanz für Moskau – könnte sich jedoch als großes Hindernis für jedes Abkommen erweisen, ebenso wie der Status der Territorien des Landes, die 2014 von Russland und seinen Stellvertretern erobert wurden.
Aber die Situation sei bei den Verhandlungen noch sehr wackelig und unsicher gewesen. Es hätte vielleicht gut ausgehen können, jedoch77:
Laut einem Bericht der Ukrainska Prawda vom Mai war die russische Seite zu einem Treffen zwischen Selenskyj und Putin bereit, aber es kam später zum Stillstand, nachdem russische Kriegsverbrechen in der Ukraine entdeckt wurden und der britische Premierminister Boris Johnson am 9. April überraschend besuchte, der Selenskyj sagte: „Putin ist ein Kriegsverbrecher, Er sollte unter Druck gesetzt werden, nicht mit ihm verhandelt werden“, und dass „selbst wenn die Ukraine bereit ist, einige Vereinbarungen über Garantien mit Putin zu unterzeichnen, sie es nicht sind“. Drei Tage nachdem Johnson Kiew verlassen hatte, erklärte Putin öffentlich, dass die Gespräche mit der Ukraine „in eine Sackgasse geraten“ seien. Weitere drei Tage später besuchte Roman Abramowitsch Kiew, um die Verhandlungen wieder aufzunehmen, wurde aber von Selenskyj als nicht neutrale Partei zurückgewiesen.
Die Interpretation, die Michael von der Schulenburg, ehemals deutscher stellvertretender UN-Generalsekretär diesem Vorgang gibt, ist geadezu atemberaubend78.
Das Schlüsselwort, das den Westen daran hindert, sich mit Russland an einen Tisch zu setzen, ist „Neutralität“. Russland möchte, dass die Ukraine neutral bleibt, während die USA eine feste Einbindung der Ukraine in das westliche Militärbündnis wünschen. …
Dass gerade die Neutralität der Stolperstein ist, ist beunruhigend, denn es wäre die Neutralität der Ukraine gewesen, die die zunehmenden Spannungen zwischen Russland und den USA wegen der Nato-Erweiterung hätte lösen können, und es wäre die Neutralität der Ukraine gewesen, die den Krieg im März dieses Jahr es hätte beenden können, als sich ukrainische und russische Unterhändler auf einen möglichen Friedensplan geeinigt hatten. In beiden Fällen war es die Nato, allen voran die USA und das Vereinigte Königreich, die jeden Schritt in Richtung eines neutralen Status der Ukraine torpedierten. Während Russland die Schuld für den Beginn eines illegalen Angriffs auf die Ukraine trägt, ist es die Nato, die für die Verlängerung des Krieges verantwortlich ist.
Das auffälligste Beispiel zeigte sich, als die Nato im März die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen torpedierte. Damals, nur einen Monat nach Kriegsbeginn, gelang es ukrainischen und russischen Verhandlungsteams, einen 15-Punkte-Entwurf für ein mögliches Friedensabkommen vorzulegen, demzufolge die Ukraine keine Nato-Mitgliedschaft anstreben und keiner ausländischen Macht gestatten würde, Militärstützpunkte auf ihrem Hoheitsgebiet zu errichten. Im Gegenzug würden alle russischen Besatzungstruppen abziehen und die Ukraine würde ihre territoriale Integrität weitgehend bewahren. Der Entwurf sah auch Zwischenlösungen für den Donbass und die Krim vor. Man hoffte, dieses Abkommen auf einer Friedenskonferenz am 29. März in Istanbul auf Außenministerebene abschließen zu können. Sowohl ukrainische als auch russische Politiker hatten bereits Hoffnungen auf ein Ende des Krieges geäußert.
Doch dazu kam es nicht. Angesichts der Möglichkeit einer neutralen Ukraine berief die Nato für den 23. März einen Sondergipfel in Brüssel ein, an dem auch Präsident Biden teilnahm. Der einzige Zweck dieses Treffens bestand darin, die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen zu beenden. Anstelle eines Kompromisses zwischen ukrainischer Neutralität und ukrainischer territorialer Integrität forderte die Nato nun den bedingungslosen Rückzug der russischen Streitkräfte aus den ukrainischen Gebieten, bevor es zu Friedensgesprächen kommen konnte. Die Botschaft der Nato an Russland war eindeutig: Es würde keinen Verhandlungsfrieden geben, der zur Neutralität der Ukraine führen würde.
So wurde der Nato-Gipfel von Madrid vorbereitet, der die gegenwärtige Leitlinie bildet. Sie hat auf ihrer Tagung am 29.06.2022 in Madrids beschlossen, die Ukraine unbeschränkt mit militärischen Gütern zu unterstützen79. Politische Lösungsvorschläge findet man im Abschlusstext aber nicht. So ergibt sich die seltsame Situation, dass die Nato
- sich mit dem Ziel einer vollständigen territorialen Wiederherstellung der Ukraine (Grenzen von 2013) solidarisiert,
- deshalb keine eigenen politischen Initiativen zur Beendigung dieses Kriegs ergreift,
- sondern diese Politik in die Hände jener ukrainischen Regierung belässt,
- die vollständig von den großen Staaten der Nato, insbesondere den USA, abhängig ist, also gar keinen Schritt alleine gehen kann.
Faktisch heißt das:
- Die USA bestimmen die Politik der Ukraine, dort gibt es erst dann die Zustimmung einer ukrainischen Regierung zu einem politischen Prozess, wenn die USA es wollen. Bislang wollen sie nicht und niemand weiß, wann die USA hier wieder eine andere Politik gegenüber Russland machen wollen.
- Die europäischen Staaten sind jetzt und in absehbarer Zukunft aus einem möglichen politischen Prozess faktisch-praktisch ausgeschlossen, es sei denn, sie stehen wie Polen und die baltischen Staaten auf der Seite der USA.
- Die Nato, die USA und die ukrainische Regierung streben einen Siegfrieden an, lehnen einen Verständigungsfrieden ab.
- Der Krieg soll also so lange dauern, bis Russland aufgibt. Weil niemand das Potential Russlands wirklich einschätzen kann, kann der Krieg also unendlich lange dauern.
- Schäden, die durch den Krieg für alle Beteiligten entstehen – Tote, Zerstörungen, wirtschaftliche Folgen – sind nicht politisch-ethischer Gegenstand dieser Konzeption: Sie sind ohne weitere Überlegungen hinzunehmen.80
- So muss mit weiteren Eskalationen gerechnet werden, wie auch immer, kein Grund, einzulenken, der Atomkrieg droht im Hintergrund81.
Über einen Weg zu Waffenstillstand und Frieden wird nicht nur nicht nachgedacht, er wird mit überdrehten Zielsetzungen von beiden Seiten blockiert.
Es gibt ebenso keine politischen Initiativen der Nato und/oder ihrer Mitgliedsstaaten zur Beendigung dieses Kriegs und es wird in absehbarer Zeit keine solchen politischen Anstrengungen geben. Der „Blankoscheck“ war 1914 ein Schritt in den Weltkrieg82.
Dieser Zustand kann als unhaltbar angesehen werden: Gerade wenn die Ukraine erfolgreich wird, muss ein Kriegsziel der westlichen Staaten bestimmt werden: Wozu das alles83?
Die Nato-Konzeption des Treffens in Warschau 2016 enthielt gegenüber Russland die beiden Momente „Abschreckung“ (= Aufrüstung) und „Dialog“. Substantielle Dialogangebote hat es jedoch nicht gegeben, im Abschlusspapier des Treffens des Nato-Rates im Juni 2022 taucht das Wort „Dialog“ nicht mehr auf.
Vor uns tut sich eine Leere auf, eine schwarze Leere. Jene, die die Ukraine unterstützen, haben kein politisch und militärisch realistisches Konzept, durchgearbeitet und auf die Zeitschiene gesetzt, jedenfalls nicht für die Öffentlichkeit. Es könnte ein „Weiter so“ bis in die letzte Katastrophe sein. Deshalb gibt es immer wieder den Ruf nach irgendwelchen Arten von Verhandlungen. Die Heftigkeit der Reaktionen auf solche „Offenen Briefe“ zeigt allerdings eher, dass auch die Reagierenden nichts Vernünftig-Praktisches wissen, sonst könnten sie gelassener antworten.
Es reicht, die Unterstützer bedingungsloser Waffenlieferungen zu fragen, wie damit Frieden denn nun konkret erreicht werden soll. Sie können nicht antworten, außer mit einem Hinweis auf die Einsichtsfähigkeit ausgerechnet Putins, ihres teuflischen Gegners. – Eine konzeptionell schwache Position, die nur mit Lautstärke glaubwürdig gemacht werden kann.
3.2 Moralische Zwischenbemerkung
Es gibt in der europäischen Überlieferung eine lange Tradition der Lehre vom „gerechten Krieg“84. Sie diente der Einhegung der Kriege, es sollte nicht mehr jeder Fürst oder Privatmann Krieg nach seinem eigenen Gutdünken führen können. Diese Lehre ist natürlich umstritten, aber das soll hier nicht diskutiert werden.
Ein Krieg, geführt von einer ordnungsgemäßen Staatsführung, braucht einen gerechten, verständlichen Grund und ein erreichbares Ziel. Und er darf nur geführt werden, wenn der von ihm hervorgerufene Schaden nicht größer ist als der, der von ihm verhindert werden soll. Das gilt auch für die Verteidigung.
Die Gründe für die Nato, die Ukraine zu unterstützen sind dann einfach nachvollziehbar, wenn man die Vorgeschichte des Kriegs weg lässt und sich auf die Ausweitung / Eröffnung des Kriegs am 24.02.2022 beschränkt: Russland überfällt einen Nachbarstaat, um dort eine andere politische Herrschaft durchzusetzen, die eine russlandfreundliche Politik betreibt, zumindest außen- und militärpolitisch neutral ist und in seiner inneren Ordnung keine Regelungen mehr kennt, die die russische Sprache beschränkt. Die Ukraine soll grundlegende politischen Fragen also nicht mehr durch die eigenen Instanzen entscheiden können. Dagegen soll irgendein dem Zustand vom 23.02.2022 ähnelnder Zustand wieder hergestellt werden. – So weit verständlich.
Nimmt man die Vorgeschichte hinzu, in der es dem Westen darum ging, die militärische Position Russlands zu schwächen, und in der der Westen mit minimalsten Zugeständnissen – Verzicht auf Nato-Beitritt der Ukraine, Umsetzung von MinskII –, die kaum auch nur eines einzigen Menschens Leben negativ berührt hätten, sieht die Sache anders aus. Es ging um Unterschriften unter zwei Texte: Der eine Text hätte gar keine praktischen Folgen/Auswirkungen/Änderungen gehabt, für nichts und niemanden, von Angehörigen politisch-militärischer Zusammenhänge mal abgesehen, der andere Text hätte die Wiedereinrichtung der alten Stabilitätsformel der Ukraine – keine der beiden politisch-kulturellen Seiten darf die andere dominieren – bedeutet. Die Ablehnung dieser Unterschriften bedeutet, dass die Nato bereit war / ist, für ein politisches Ziel, das nur Politik- und Militärstrategen als wichtig ansehen können, den Tod von Zehntausenden und die Zerstörung ganzer Landstriche zu riskieren. Bezieht man diese Vorgeschichte mit ein, ändert sich die Bewertung des Verhaltens der Nato und ihrer Mitgliedsstaaten grundlegend.
Die Nato lässt auch keine Angaben zum Verhältnis von Ziel, Mittel und Opfer erkennen85. Der Tod von welcher Anzahl an Menschen ist hinnehmbar, um welches Ziel zu erreichen? Es ist, so wie er von der Seite der Nato gegenwärtig gehandhabt wird, ein Krieg ins Blaue. Man führt ihn halt, weil man sich dafür entschieden hat, Zahl und Leiden der Opfer egal wie auch das Ausmaß von Zerstörung. Irgendwas wird halt passieren, Hauptsache, Russland wird geschädigt.
Anders sieht es mit der Ukraine aus. Ein völkerrechtlich souveräner Staat ist angegriffen worden, er hat das Recht zur Verteidigung. Allerdings muss man auch hier fragen, inwieweit ihn selbst eine Verantwortung trifft. Das geforderte Zugeständnis war minimal, obendrein mit den längst gegebenen völkerrechtlichen Zusagen vereinbar. Aber die politische Führung wollte nicht. Darf sie unter diesen Umständen das Leben von zehntausenden verlangen? Ist die – faktisch eh fiktive – Souveränität dieses Staates bedeutender als das Leben von einigen zehntausend Menschen?
Russland hatte 2021 das Recht (Charta von Paris, Dokument von Istanbul), von den USA und von der Nato zu verlangen, dass mit ihm Gespräche über die weitere Nato-Osterweiterung geführt werden. Es hatte angesichts der Kooperation Ukraine / Nato-Staaten die Befürchtung, dass Raketen unmittelbar vor seiner Tür stationiert werden. Und es wollte den andauernden tödlichen kleinen Krieg im Donbass beenden. – Die Verhandlungen zeigten, dass es in den wesentlichen Fragen keine Zugeständnisse seitens des Westens und der Ukraine gab.
Im bisherigen Verlauf ist Russland diesen politischen Zielen letztlich kein Stück näher gekommen. Die Nato ist mit der Ukraine engagierter als je, die Sicherheit der ehemaligen „Volksrepubliken“, jetzt irgendwie Teil Russlands, ist weiterhin nicht gewährleistet. Vor allem zeigt ein Blick auf die Zahl der Toten – und da muss man alle nehmen, die Soldaten und Zivilisten beider Seiten – ist explosionsartig gestiegen. Wenn – wie wahrscheinlich – der Krieg irgendwo am Dnepr stehen bleiben wird, eine Teilung der Ukraine nach koreanischer Art, dann wird die Nato faktisch-praktisch bis an den Dnepr vorrücken.
Es ist auch nicht zu erkennen, dass sich diese Lage für Russland verbessern wird. Ein rationales politisches Ziel gibt es für Russland in diesem Krieg nicht, also kann er schon an diesem Punkt nicht moralisch gerechtfertigt werden86.
Wichtiger ist jedoch: Auf beiden Seiten gibt es zwar so etwas, das man strategische Überlegungen für diesen Krieg nennen könnte, so pfuschig sie auch sind, die Menschen kommen jedoch nicht in den Blick. Sie sind letztlich nur Verfügungsmasse. Man kann sie als Kämpfer mobilisieren, man kann sie als Opfer beklagen. Aber Rücksicht muss man nicht nehmen.
Aber genau an der Stelle muss friedensethisch nachgefragt werden, müssen friedensethische Alternativen entwickelt werden: Es geht um die vielen einzelnen Menschen.
Diese Sprachlosigkeit der kriegsführenden Seiten irritiert. Sie führt einerseits zu mehr politischem Fanatismus, wie man in den sozialen Netzwerken sehen kann. Damit sind nicht nur die üblichen querdenkenden Verdächtigen gemeint, sondern auch jene, die meinen, ganz brav dem Staat geben zu müssen, was des Staates ist. Eigentlich ganz ordentliche Leute, die auf einmal meinen, für einen Krieg, mindestens einen Wirtschaftskrieg, bereit sein zu müssen oder wenigstens andere deswegen frieren und noch andere auch sterben lassen zu müssen. Da macht sich ein Ton breit, der den inneren Frieden in diesem Land, den gegenseitigen Respekt der unterschiedlichen Auffassungen massiv beschädigt. Krieg nach außen, ob man selbst schießt oder andere für sich schießen lässt, führt zu Spannungen im Inneren87. Wir können so etwas schon an Wahlergebnissen und auf den Straßen sehen88.
Deshalb ist es notwendig, einen rationalen Dialog in Gang zu setzen. Dazu sollen nun Vorschläge diskutiert werden, die für die Beendigung dieses Krieges gemacht worden sind.
Es hat in der deutschen Öffentlichkeit bislang nicht sehr viele Initiativen gegeben, die auf eine Politik des baldigen Friedens in der Ukraine drängen. Man kann auch nicht gerade sagen, dass über den Krieg und vor allem über die ihm vorausgehenden politischen Krisen in unseren Massenmedien von den Nachrichten- und Meinungsherstellern wirklich kontrovers gesprochen worden wäre / gesprochen wird89. Man steht zumeist Gewehr bei Fuß.
3.3 Appell: Waffenstillstand jetzt!
Der in den letzten Monaten wichtigste Vorschlag90 wurde – immerhin – in der ZEIT veröffentlicht91.
Waffenstillstand jetzt!
Die Verfasser dieses Appells fordern den Westen auf, den Ukraine-Krieg durch Verhandlungen zu beenden. Zu den Unterzeichnenden gehören Juli Zeh und Richard David Precht.
Der Text ist eher vorsichtig abgefasst: So, wie es jetzt läuft, kann es nicht weiter gehen, Verhandlungen müssen her92.
Krieg in der Ukraine: Waffenstillstand jetzt!
Europa steht vor der Aufgabe, den Frieden auf dem Kontinent wiederherzustellen und ihn langfristig zu sichern. Dazu bedarf es der Entwicklung einer Strategie zur möglichst raschen Beendigung des Krieges.
Die Ukraine hat sich unter anderem dank massiver Wirtschaftssanktionen und militärischer Unterstützungsleistungen aus Europa und den USA bislang gegen den brutalen russischen Angriffskrieg verteidigen können. Je länger die Maßnahmen fortdauern, desto unklarer wird allerdings, welches Kriegsziel mit ihnen verbunden ist. Ein Sieg der Ukraine mit der Rückeroberung aller besetzten Gebiete einschließlich der Oblaste Donezk und Luhansk und der Krim gilt unter Militärexperten als unrealistisch, da Russland militärisch überlegen ist und die Fähigkeit zur weiteren militärischen Eskalation besitzt.
Die westlichen Länder, die die Ukraine militärisch unterstützen, müssen sich deshalb fragen, welches Ziel sie genau verfolgen und ob (und wie lange) Waffenlieferungen weiterhin der richtige Weg sind. Die Fortführung des Krieges mit dem Ziel eines vollständigen Sieges der Ukraine über Russland bedeutet Tausende weitere Kriegsopfer, die für ein Ziel sterben, das nicht realistisch zu sein scheint. …
Der Westen muss sich Russlands Aggression in der Ukraine und weiteren revanchistischen Ansprüchen geeint entgegenstellen. Doch ein Fortdauern des Kriegs in der Ukraine ist nicht die Lösung des Problems.
Man kann den Appell als Antwort auf die problematische Position der Nato lesen. Es reicht nicht, die Ukraine materiell zu unterstützen, es muss auch nach einem politischen Ausweg gesucht werden.
Verhandlungen bedeuten nicht, wie manchmal angenommen wird, der Ukraine eine Kapitulation zu diktieren. Einen Diktatfrieden Putins darf es nicht geben. Verhandlungen bedeuten auch nicht, etwas über den Kopf der Beteiligten hinweg zu entscheiden. Die internationale Gemeinschaft muss vielmehr alles dafür tun, Bedingungen zu schaffen, unter denen Verhandlungen überhaupt möglich sind. Dazu gehört die Bekundung, dass die westlichen Akteure kein Interesse an einer Fortführung des Krieges haben und ihre Strategien entsprechend anpassen werden. …
Wirtschaftliche Sanktionen und militärische Unterstützung müssen in eine politische Strategie eingebunden werden, die auf schrittweise Deeskalation bis hin zum Erreichen einer Waffenruhe gerichtet ist.
Bislang ist kein konzertierter Vorstoß der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der großen westlichen Akteure, erfolgt, um Verhandlungen auf den Weg zu bringen. … Der bisherige Verlauf der Verhandlungsversuche zeigt eine anfängliche Verständigungsbereitschaft beider Seiten unter Annäherung der Zielvorstellungen. Nur eine diplomatische Großoffensive kann aus der momentanen Sackgasse herausführen.
Die Aufnahme von Verhandlungen ist keine Rechtfertigung von Kriegsverbrechen. Wir teilen den Wunsch nach Gerechtigkeit. Verhandlungen sind indes ein notwendiges Mittel, um Leid vor Ort und Kriegsfolgen auf der ganzen Welt zu verhindern. Angesichts drohender humanitärer Katastrophen sowie des manifesten Eskalationsrisikos muss der Ausgangspunkt für die Wiederherstellung von Stabilität schnellstmöglich gefunden werden. Nur eine Aussetzung der Kampfhandlungen schafft die dafür notwendige Zeit und Gelegenheit. Die Bedeutung des Ziels verlangt, dass wir uns dieser Herausforderung stellen und alles tun, damit ein baldiger Waffenstillstand und die Aufnahme von Friedensverhandlungen möglich werden – und alles unterlassen, was diesem Ziel entgegensteht.Waffenstillstand jetzt
Der Appell verurteilt weder die politische noch die finanzielle noch die militärtechnische Unterstützung der Ukraine. Er hält sie, ganz im Gegenteil, für sinnvolle Voraussetzungen von Verhandlungen. Er verlangt nur, dass dem militärischen Widerstand ein politisches Angebot zur Seite gestellt wird: Lasst uns reden. Er hat kein Patentrezept dafür, wie der Westen und Russland zu den Verhandlungen kommen.
Der Appell macht keine inhaltlichen Vorschläge etwa der Art, die Nato und/oder die Ukraine hätten dieses oder jenes zu tun, damit Russland zufrieden gestellt wird. – Die Lage ist viel zu verwickelt, als dass Appelle sie inhaltlich klären könnten.
Es geht in diesem Text vor allem um ethisches Problem, wie Wolfgang Merkel, einer der Autoren, ausführt93:
Der ethische Konflikt im Ukraine-Krieg
Hier brechen die eigentlichen Fragen auf. Welche Lösungen wir auch immer denken, es werden Dilemmata sichtbar, nicht beabsichtigte Konsequenzen drohen, niemand bleibt ohne „schmutzige Hände“ (Sartre).
Worüber streiten wir so erbittert? Es sind, vereinfacht formuliert, zwei Alternativen. Die eine besagt, wir, der Westen, müssen der Ukraine Waffen liefern, sofort, massiv, bedingungslos. …
Die andere Alternative wird u. a. von den Unterzeichnerinnen des „offenen Briefes“ und des „Appells“ formuliert. Ihre Befürchtung ist folgende: Wie massiv die Waffenlieferungen auch sein mögen, sie brechen nicht die Eskalationsdominanz des politisch-militärischen Blocks des Putin-Regimes.
Sie verlängern den Krieg, sie verheeren auf unbefristete Zeit Städte, Landstriche, Infrastruktur und Seelen. Und vor allem: Sie kosten zusätzliche Menschenleben, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat.
Wie viele Menschenopfer lassen sich ethisch verantworten, um die Krim zurückzuerobern? Wie viele die Vertreibung russischer Truppen aus Luhansk, Donezk und Mariupol? Zu argumentieren, dies habe allein die ukrainische Regierung zu entscheiden, überdehnt den auch ethisch gebundenen Repräsentationsgedanken und entbindet nicht diejenigen von eigenen ethischen Überlegungen, die massiv Waffen liefern.
Hier kommen Menschen in den Blick, „Menschenopfer“. Das ist eine Dimension, die von den Befürwortern des bisherigen „Lieferns-aber-Nichtverhandelns“ gar nicht in den Blick genommen werden. Die vielen Einzelnen lösen sich ihnen in eine strategisch handhabbare Masse auf, das ethische Problem wird „gelöst“, indem es ignoriert wird.
Diese zusätzliche Perspektive – es geht um die Menschen! – ermöglicht es, über einen Grundriss einer zukünftigen Friedensordnung nachzudenken. Merkel greift dazu auf Diskussionsergebnisse einer internationalen Arbeitgruppe zurück, die vom 06.-07.06.2022 im Vatikan getagt hat94.
Während wir uns auf die praktische Weisheit (Phronese) der gesegneten Friedensstifter stützen, basierend auf den feststellbaren Wurzeln des Konflikts, den Verhandlungen im März und den bisherigen Friedensinitiativen, schlagen wir die folgenden Richtgrößen für einen Waffenstillstand und ein positives Friedensabkommen vor:
(1) Neutralität der Ukraine, d. h. der Verzicht auf den staatlichen Ehrgeiz, der Nato beizutreten, bei gleichzeitiger Anerkennung der Freiheit der Ukraine, Abkommen mit der Europäischen Union und anderen abzuschließen;
(2) Sicherheitsgarantien für Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine durch die fünf ständigen Mitglieder der Vereinten Nationen (P-5: China, Frankreich, Russland, Großbritannien und Vereinigte Staaten) sowie der Europäischen Union
und der Türkei, was militärische Transparenz und Beschränkungen der Stationierung von Militär und groß angelegter Übungen in Grenzgebieten unter internationaler Beobachtung im Zusammenhang mit der Aufhebung von Wirtschaftssanktionen beinhalten könnte;(3) Russische De-facto-Kontrolle der Krim für einen Zeitraum von Jahren, danach würden die Parteien auf diplomatischem Weg eine dauerhafte Dejure-Lösung anstreben, die den erleichterten Zugang für lokale Gemeinschaften sowohl zur Ukraine als auch zu Russland, eine liberale Grenzübergangspolitik für Personen und Handel, die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte und finanzielle Entschädigungen einschließen könnte;
(4) Autonomie der Regionen Lugansk und Donezk innerhalb der Ukraine, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Aspekte einschließen könnte, die kurzfristig genauer festgelegt werden;
(5) Garantierter wirtschaftlicher Zugang sowohl der Ukraine als auch Russlands zu den Schwarzmeerhäfen beider Länder;
(6) Die schrittweise Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland verknüpft mit dem Rückzug des russischen Militärs gemäß dem Abkommen;
(7) Einen multilateralen Fonds für Wiederaufbau und Entwicklung der vom Krieg gezeichneten Regionen der Ukraine – an dem auch Russland beteiligt ist – und sofortigen Zugang für humanitäre Hilfe;
(8) Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Bereitstellung internationaler Überwachungsmechanismen zur Unterstützung des Friedensabkommens.
Der Text wird ausführlich zitiert, um deutlich zu machen, dass für einen zukünftigen Friedensprozess ein realistischer Weg und ein realistisches Ziel bestimmt werden kann. Er ist in Deutschland fast unbekannt, in den Massenmedien kommt er nicht vor, obwohl immerhin ein leibhaftiger ehemaliger italienischer Ministerpräsident ihn mit verfasst hat. – Es ist kein Text aus einer politisch und intellektuell belanglosen Querdenker-Ecke.
Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, was der Westen gegen Gespräche über eine Lösung auf dieser Grundlage haben könnte: Die Ukraine erhält fast ihr ganzes Territorium zurück, wenn auch in einigen Regionen besondere Regeln gelten. Die Ukraine bleibt politisch neutral, ihre Souveräntität wird international garantiert, sie kann Mitglied der EU werden. In den Einzelheiten sind natürlich viele weitere Schwierigkeiten verborgen, die bei ihrer Operationalisierung zu Tage treten würden.
Die Frage der ethnischen und sprachlichen Minderheiten fehlt allerdings völlig. Das ist ein erheblicher Mangel. Das wäre für Russland sicher ein Problem.
3.4 Waffenstillstand erst nach dem Sieg!
Was wird gegen eine solche Politik, die Verhandlungen jetzt fordert, eingewendet?
Liana Fix (Körber-Stiftung, GMFUS)95 dekretiert ohne jede Arbeit am Text des Appells96:
Inflation, Energieknappheit, Ernährungskrise -– die Folgewirkungen des russischen Kriegs in der Ukraine geben denjenigen Stimmen Aufwind, die einen sofortigen Waffenstillstand fordern und den ukrainischen Widerstand als zwecklos ansehen. Sie sehen als Ursache dieser Krisen nicht primär die Natur und Politik des russischen Regimes, sondern die Tatsache des Krieges selbst. Wenn die Kampfhandlungen nur sofort gestoppt würden, könnte wieder Ruhe einkehren, der deutsche Wohlstand wäre gesichert mit kontinuierlichen russischen Gaslieferungen und humanitäre Katastrophen wären abgewendet –- so lautet die Logik.
Häufig gehen diese Forderungen einher mit der Annahme, dass Russland in der Ukraine nur begrenzte politische Ziele verfolgt, die einen Kompromiss zulassen – zum Beispiel, dass es nur um die Neutralität der Ukraine und die Verhinderung einer Nato-Mitgliedschaft gehe oder dass Russlands territorialer Anspruch sich nur auf den Donbass erstrecke. Beide Annahmen sind ein Trugschluss und eine gefährliche Fehleinschätzung der russischen Politik. Putin will nicht nur Neutralität oder Territorien: Er will -– völlig kompromisslos -– die Vernichtung der Ukraine als unabhängiger Staat und Nation.
Diese Aussagen über die Ziele Putins findet man häufig. Sie gehören zum Standardrepertoire, ein Generalschlüssel für jede Lage. Allein: Fragt man nach Belegen, kommt nie mehr als der pauschale Hinweis auf Putins geschichtspolitische Texte. Fragt man nach genauen Textstellen, hört das Frage-Antwort-Spiel bald auf. Es gibt keine Belege. Stattdessen wird gesagt, diese Texte seien genau von der anti-ukrainischen Haltung Putins her zu lesen. Was bewiesen werden soll, zeigt sich dann als Voraussetzung des Beweises97. – In Wirklichkeit kennt, wie schon gezeigt, niemand die genauen Ziele Russlands in diesem Krieg. Im Westen hat man mehr oder minder begründete Vermutungen, mehr nicht. Diese Vermutungen kann man je nach Wunsch drehen, wie man möchte.
Aber wegen Putin muss ein Waffenstillstand ganz anders aussehen als in jenem Appell:
Das Ziel für einen realistischen Waffenstillstand muss es sein, Russland so weit wie möglich zu den Frontverläufen vor Ausbruch des Krieges zurückzudrängen -– idealerweise zu den Linien des 23. Februar, aber zumindest in die Nähe. Die Ukraine kann dies jedoch nicht allein erreichen, sondern nur, wenn westliche Waffenlieferungen und Training auf dieses Ziel kalibriert werden, statt tröpfchenweise und eklektisch einzutreffen. So paradox es klingt: Für einen realistischen Waffenstillstand müssen zuerst mehr Waffen geliefert werden. Nur so kann eine angemessene Verhandlungssituation entstehen.
Hier wird Strategie gespielt. Die Bauern, die im Schach geopfert werden, um eine Lücke in die Front des Gegners zu reißen, können beim nächsten Spiel wieder aufgestellt werden. Sie sind nur aus Holz.
In diesen Überlegungen von Liana Fix kommen Menschen jedoch gar nicht vor. Auf der Grundlage schlicht behaupteten Wissens werden Kanonen aufs Spielfeld gezogen, abgefeuert, die Toten mit leichter Hand neben dem Brett für eine folgende Verwendung neu aufgestellt.
Der grundlegende Fehler solcher Konzepte ist, dass es im Schach nicht nur Spielregeln gibt, an die sich beide Spieler bei Strafe des Ausschlusses vom Spiel und damit der Niederlage halten müssen, sondern auch ganze Bibliotheken mit der Diskussion der einzelnen Varianten der Eröffnungen gedruckt vorliegen; man kann vorher sagen, welche Folgen dieser oder jene Zug in der „Italienischen Eröffnung“ bis zum soundsovielten Zug hat. Das ist im Krieg noch weniger der Fall als sonst in der Politik.
Die Vorstellung „Wenn wir dieses und jenes tun, wird der andere irgendwann einsehen, dass er nachgeben muss.“ gilt nur dann, wenn man überlegen bereit und fähig ist, die andere Seite vollständig, restlos zu besiegen. Mit solch einer Zielsetzung ist der Zweite Weltkrieg von den Alliierten siegreich beendet worden: Deutschland lag vollständig am Boden und konnte nur noch hoffen zu überleben, wenn es tut, was die Sieger sagen.
Wenn man dagegen „nur“ ein Teilziel hat und über die Stärke der anderen Seite nur Vermutungen existieren, muss man mit jeder Aktionen der anderen Seite rechnen, vor allem mit solchen Handlungen, an die man selbst gar nicht gedacht hat. Da ist es schwierig, militärische und politische Ziele zu formulieren. Man muss98
… begreifen, was die Biden-Administration nicht versteht: dass Putin nicht dem Drehbuch folgt, das wir für ihn in der Ukraine geschrieben haben. Dieses Drehbuch beinhaltet eine Berechnung von Kosten und Nutzen, die ihn dazu bringen wird, von einer Konfrontation mit den Vereinigten Staaten und der NATO Abstand zu nehmen, die er nicht gewinnen kann. Wenn wir diese Kosten deutlich machen, so argumentieren wir, wird er erkennen, dass sie alle potenziellen Vorteile einer Aggression für ihn und für Russland bei weitem überwiegen.
Aber immer wieder, als wir ihn gezwungen haben, mit diesen Kosten zu rechnen, hat er nicht so reagiert, wie wir es erwartet hatten. Als er Anfang dieses Jahres mit der ausdrücklichen Warnung vor drakonischen US-amerikanischen und europäischen Wirtschaftssanktionen und militärischen Gegenmaßnahmen konfrontiert wurde, wenn Russland in die Ukraine einmarschieren sollte, setzte er seine Drohungen um, anstatt sich zurückzuziehen. Dann, als die Kombination aus ukrainischem Mut und westlicher Militärtechnologie seinen Versuch, Kiew einzunehmen, blockierte, erhöhte er den Einsatz, indem er eine brutale Flut von Artillerie- und Raketenangriffen auf die ukrainische Verteidigung in der Donbas-Region entfesselte und darauf wettete, dass Russlands riesige Munitionsvorräte die der Ukraine und des Westens überdauern könnten.
Jetzt, als Reaktion auf die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive im Donbass, verdoppelt er erneut, anstatt sich zurückzuziehen. Indem er sich dafür entscheidet, Russlands Militärreservisten zu mobilisieren, Russlands Verteidigungsindustrie hochzufahren, mehr ukrainisches Territorium zu annektieren und mit einer nuklearen Reaktion zu drohen, wenn Russland angegriffen wird, intensiviert er den Krieg eher, als dass er ihn entschärft.
Und nach dem Angriff auf die Kertsch-Brücke begann Russland, die ukrainische Energie-Infrastruktur zu zerstören. Entweder erarbeitet man sich die Überlegenheit auf allen Feldern der Kriegsführung – zu Lande, zum Wasser und in der Luft, zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort – (Irak, Libyen) oder man muss irgendwann, wenn man das eigene Durchhaltevermögen nachlässt, über den Abzug verhandeln (Vietnam, Afghanistan sowohl Russland als auch der westliche Block). Man kann aber auch den Krieg bis ins Unendliche dehnen, grenzenlos verlängern (Syrien).
Dass ein Krieg siegreich beendet werden kann, in dem man an einem bestimmten Punkt des Vormarsches aufhört und die andere Seite sich dann mit dem Ende einverstanden zeigt, obwohl sie noch mit Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Lage weiter kämpfen könnte, dürfte kaum eine vernünftige Erwartung sein99.
Zumal sich auch eine andere Erwartung bestätigt: Die nun unterstützte, mindestens zeitweilig überlegen vorstoßende „eigene“ Seite könne damit bessere Positionen bei Verhandlungen nutzen. Vielleicht wird sie dafür gestärkt, jedoch: In dem Moment, in die Ukraine erfolgreich vorstieß, hörte man von ihr, dass sie gar keine Lust zu Verhandlungen hat, außer um die Modalitäten der vollständigen Kapitulation Russlands zu regeln. Einige begannen sogar, die vollständige Auflösung Russlands zum Ziel zu erklären.
Jeder, der auch ein paar Stündchen über den Umgang mit anderen Menschen nachdenkt, weiß sofort, dass solche politisch-militärischen Konzeptionen bestenfalls in aller Abstraktheit am Kamin als regulative Ideen zu gebrauchen sind, aber niemand klug beraten ist, auf irgendeine Art von praktischer Umsetzung zu denken.
Allerdings, nicht nur deutsche Kaminzimmergeneräle und deren promovierte und habilitierte Alice-Schalek-Begleitungen bleiben in solchem Unfug stecken. Putin muss ein Wunder eingeplant haben, als er zum 24.02.2022 den Sieg von 180.000 gegen 500.000 befahl; der Plan schien voraus zu setzen, dass die ukrainische Armee sich genauso freiwillig der russischen anschließen würde, wie sich die ukrainische Marine der Krim der russischen von Sebastopol angeschlossen hatte, nämlich weitgehend.
Denkfehler scheinen zur DNA des Militärischen zu gehören. Militärs arbeiten mit hocheffizienten Geräten in Lagen, die sie nicht überblicken, oft nur auf Gut-Glück oder rein zufällig verstehen. Deshalb neigen sie zu komplexen Konstruktionen, die dem Laien als hochfachlich erscheinen, nur vom Experten verständlich, und oft doch nur Spökenkiekerei sind.
In Wirklichkeit ist solche Politik die tausendste Wiederholung des Chicken-Game: Jeder Akteur hofft, er käme in all seiner Unwissenheit mit seiner Dreistigkeit durch, während der andere zu blöd sei, seine Unwissenheit auch nur zu ahnen. Jeder Akteur kennt diese Situation aus seiner Pubertät: Der Junge, den kurzen Hosen gerade entwachsen, fühlt sich stark wie ein Bär, allerdings fehlen im die Gelegenheit, seine Kraft zu zeigen. Und weil er sein gewaltiges Können noch nie erproben konnte, macht er schnell einen lächerlichen Eindruck. Kompetenzinszenierung gehört deshalb zum militärischen Beruf: Die Parade auf dem Marktplatz, über dem Arc de Triomphe oder an der Kreml-Mauer genauso wie die Inszenierung von Theoriekompetenz selbst dort, wo es nur um heiße Luft geht100.
Dummerweise denken und verhalten sich beide Seiten so101.
Den Staatsmacht-Spielern der Großen Politik ist nicht nur nicht zu trauen; sie sind im höchsten Maße gemeingefährlich.
Texte zur Sicherheitspolitik aus der Mitte des Staates oder von deren Dienstschreibern tragen deshalb notwendige Momente des Kindischen, allerdings hinter inszenierter Tiefgedanklichkeit versteckt.
Die Dümmeren unter den Zeitgenossen – Schreiber und Leser – merken das nicht, vernehmen den flachsten Unsinn als aus einem Gott emanierten Tiefsinn. Geht es ums Militär, hat man immer auch mindestens mit jener „Dummheit“ zu tun, die für dieses Gewerbe konstitutiv ist, aus legitimatorischen Gründen auch darüber hinaus gehend.. Brecht schrieb dazu:
Unsichtbar macht sich die Dummheit, indem sie große Ausmaße annimmt.
Und Dietrich Bonhoeffer102
Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr
Wesen zu verstehen suchen. Soviel ist sicher, daß sie nicht wesentlich
ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt
intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und
intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm
sind. Diese Entdeckung machen wir zu unserer Überraschung anläßlich
bestimmter Situationen.Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein
angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die
Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen. Wir
beobachten weiterhin, daß abgeschlossen und einsam lebende Menschen
diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder
verurteilte Menschen und Menschengruppen.So scheint die Dummheit vielleicht weniger ein psychologisches als ein
soziologisches Problem zu sein. Sie ist eine besondere Form der
Einwirkung geschichtlicher Umstände auf den Menschen, eine
psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußerer Verhältnisse. Bei
genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung,
sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der
Menschen mit Dummheit schlägt.
Militär und (diese Art von) Dummheit fallen nicht zusammen. Zum einen, weil die Mehrzahl von Militärangehörigen vor allem mit dem Erlernen, Ein- und Ausüben des eigenen Handwerks beschäftigt ist und gar keine Zeit für strategische Fantasien und legitimatorische Entwürfe hat. Es geht hier eher um eine personelle Schnittmenge als höheren Militärs, „Sicherheits-“Politikern und Politik„wissenschaftlern“. – Wichtig jedoch: Es gibt keinen Grund, diesen Leute ein besonderes Wissen und eine besondere Erkenntnisfähigkeit und dann auch noch besondere Einsichten zu zu trauen.
Die (mögliche) Popularität von Waffenstillstandsforderungen bringt auch Leute auf den Plan, die als richtige „Experten“ gelten103. Mehr inhaltliche Substanz findet sich da jedoch nicht.
Das ist keine Auffassung vom Rande der Politik mehr. Der in der US-Außenpolitik einflussreiche Politikwissenschaftler Michael McFaul104 hat Anfang 2021 in der Zeitschrift „Foreign Affaires“ einen programmatischen Aufsatz zur Russland-Politik der Biden-Regierung veröffentlicht105. Kurz zusammengefasst:
- Russlands Einfluss muss überall auf der Welt eingedämmt werden,
- die Nato muss erheblich aufrüsten,
- wirtschaftlichen Aktivitäten Russlands im Westen, die politische Auswirkungen haben könnten, müssen unterbunden werden, insbesondere die NordstreamII-Gasleitung,
- Die Ukraine muss politisch und militärisch gestärkt werden,
- die innere Opposition in Russland muss gestärk werden,
- aber man sollte schon so viel mit Russland reden, dass man nicht aus Versehen Krieg führt.
Alles, was nach einem „Gemeinsamen Haus Europa“ oder einem System gemeinsamer europäischer Sicherheit aussehen könnte, ist in diesen Überlegungen noch nicht mal mehr gestrichen worden. Es gibt sie einfach nicht.
In Deutschland wurden solche Gedanken übernommen106. So schreibt der SPD-Außenpolitiker Michael Roth (MdB, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheit des Deutschen Bundestags) 107:
Mit Blick auf Russland brauchen wir mehr Realismus statt naives Wunschdenken. Russland ist eine imperialistische Macht, die unsere europäische Friedensordnung und regelbasierte Ordnung zerstören will. Putin will eine neue internationale Ordnung bauen, die ganz auf Zwang und Gewalt basiert, in der Großmächte über Einflusssphären verfügen, in denen sie schalten und walten können, wie sie wollen. Das widerspricht nicht nur unseren Ordnungsvorstellungen, sondern auch der UN-Charta, die Russland mit Füßen tritt. Deutschland hat jahrelang versucht, den Dialog mit Russland aufrechtzuerhalten, um Frieden und Sicherheit in Europa zu wahren. Diese Politik, die auf Verständigung und wirtschaftlichen Austausch setzte, hat Russland nicht von seinem aggressiven Kurs abbringen können. Fakt ist: Sicherheit kann es in Europa nur noch gegen, nicht mehr mit Russland geben. …
Wir müssen deshalb eine europäische Sicherheitsarchitektur gegen Russland errichten, die auf militärische Abschreckung sowie auf die politische und wirtschaftliche Isolation Russlands baut. …
Künftig kann es keinen deutschen Sonderweg mehr mit Russland geben, der zulasten unserer mittel- und osteuropäischen Partner geht. Eine gemeinsame europäische Ostpolitik muss die Sicherheitsinteressen von Polen und den baltischen Staaten, die sich ganz konkret von Russland bedroht fühlen, stets mitdenken.
Die hier beschworene Perspektive dürfte haltlos sein. Die Analyse ist falsch, die Folgerungen sind leichtsinnig. Es ist die Kapitulation vor den USA und den osteuropäischen Nationalisten innerhalb der westlichen Bündnisse.
Frieden gibt es erst, wenn Russland besiegt ist. Solange wird gefälligst gestorben. Von anderen natürlich. – Diese Nato-Politik hat einen impliziten rassistischen Aspekt: Es sterben Russen und Ukrainer, vielleicht noch Menschen aus anderen Teile der ehemaligen Sowjetunion, also Angehörige irgendwelcher letztlich unwichtiger Völker, deren Schicksal schon 1914 bis 1921 und wieder ab 1941 egal war.
Die deutsche Außenministerin ordnet sich in dieses Vorgehen ein und entwickelt es weiter108. Sie verspricht die unbedingte Unterstützung der Ukraine, egal, wie die deutschen Wähler denken und sich im nächsten kalten Winter verhalten. Es geht darum, dass Russland in der Ukraine „strategisch“ scheitert. Das meint sicher mehr als eine militärische Niederlage, sondern den Ausschluss Russlands aus der internationalen Politik, es sei denn, in der Rolle eines Bittstellers.
Man kann das so verstehen, dass ein baldiger Waffenstillstand und ein darauf folgender Friede, orientiert an Kompromiss und Gerechtigkeit, für sie kein Thema ist. Sie will einen atlantischen Siegfrieden.
Selbst wenn solch eine Politik Aussicht auf Erfolg hätte, wird sie keinen Frieden erreichen, bestenfalls Abkommen mit dem Vorbehalt, dass der Krieg bei Gelegenheit wieder aufgenommen wird. Die diesem Krieg zugrunde liegenden Probleme wären ja nicht gelöst109.
Für die gegenwärtigen Herausforderungen heißt das: Folgt die deutsche/europäische/westliche Außenpolitik dieser Linie, ist der Weg der KSZE und der Charta von Paris verlassen. Es kann dann keine dauerhaften Regelungen mehr geben, das ganze Europa betreffend. Sie sind nicht mehr gewollt. Damit aber wird ein dauerhafter Frieden in und um die Ukraine herum unmöglich.
Solch ein Konzept von Außenpolitik, dem die menschlichen Kosten schlicht gleichgültig sind, erfährt im offiziellen Berlin nicht nur keinen Widerspruch, es wird sogar gefordert, s. Roth und Baerbock. Es fehlt jedoch noch an den massengängigen Formulierungen für jene Formulierungen in der Öffentlichkeit, mit denen die Wähler auf eine vollständige Wende der außenpolitischen Topoi gewöhnt werden.
Man tut schon längst nicht mehr so, als ob man Frieden will. Man hat nur noch die eingängigen Formeln, um die eigenen Ziele zu verkaufen. Angesichts nicht nur eines Winters in kalten Wohnungen und sich rasch leerenden Geldbeuteln nicht nur der kleinen Leute und der sich abzeichnenden Betriebsschließungen, angefangen beim mittelständischen Bäcker über Ziegelbrennereien bis hin zu Chemiefabriken, die nicht einfach mal ihre Betriebstemperaturen absenken können, weil sie die notwendige Gasmenge nicht mehr bezahlen können.
Diese Außenpolitik erzeugt eine innenpolitische Krise.
Die Grenzen einer Ukraine-Politik, die die ukrainische Regierung einerseits bedingungslos materiell, politisch und zunehmend auch im militärischen Background unterstützt, könnten erkennbar werden, kann man Ende Oktober 2022 in ForeignAffairs lesen110.
Moskaus Eskalation in diesem Herbst lässt die Zwillingsgespenster eines umfassenderen Krieges mit der NATO und des Einsatzes von Atomwaffen aufkommen. Die globalen wirtschaftlichen Kosten des Konflikts sind bereits enorm und werden mit ziemlicher Sicherheit mit Beginn des Winters zunehmen. Auch wenn ein Verhandlungsende des Krieges heute unmöglich erscheint, sollte die Biden-Regierung beginnen, sowohl öffentlich als auch gegenüber ihren Partnern die schwierigen Fragen aufzuwerfen, die ein solcher Ansatz mit sich bringen würde. Sie muss den richtigen Zeitpunkt durchdenken, um auf Verhandlungen zu drängen, und an welchem Punkt die Kosten für die Fortsetzung des Kampfes die Vorteile überwiegen werden. Bei der Suche nach einer nachhaltigen Lösung muss die Regierung auch herausfinden, wie sie aus den Erfolgen der Ukraine Kapital schlagen kann, ohne die Voraussetzungen für weitere Konflikte zu schaffen. …
Aber diese Position beizubehalten, wird jetzt schwieriger, da der russische Präsident Wladimir Putin den Krieg verdoppelt und unverhohlene nukleare Drohungen gegen den Westen ausgesprochen hat. Putin hat sich entschieden, erhebliche neue Risiken einzugehen, anstatt nachzugeben, was darauf hindeutet, dass dieser Krieg nicht durch einfache russische Kapitulation enden wird. Obwohl diese Risiken vorerst überschaubar erscheinen, könnte die Zeit kommen, in der Verhandlungen notwendig sind, um eine Katastrophe zu verhindern.
Gleichzeitig nehmen die wirtschaftlichen Folgen des Krieges rapide zu. In der Ukraine sind die öffentlichen Finanzen verwüstet; Dem Land geht das Geld aus. Wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze es im September formulierte: „Wenn die Verbündeten der Ukraine ihre finanzielle Hilfe nicht erhöhen, gibt es allen Grund, sowohl eine soziale als auch eine politische Krise an der Heimatfront zu befürchten.“ Europa ist unterdessen in seiner eige nen Schlinge gefangen, da steigende Energiepreise die Inflation verschärfen und die Aussicht auf eine tiefe Rezession erhöhen. All dies macht die Position der Regierung -– dass Kiew allein entscheiden wird, wann der Krieg endet –- zunehmend unhaltbar.
In Wirklichkeit ist die Frage nicht, ob Verhandlungen notwendig sind, um den Krieg zu beenden, sondern wann und wie sie sich entwickeln sollten.
Die USA brauchen eine Skizze eines möglichen Endes des Kriegs, wie er in Verhandlungen festgelegt werden kann.
Zum Beispiel müssen sich die Ukraine und ihre Verbündeten auf Kerninteressen konzentrieren, wie die Wahrung der Souveränität der Ukraine und den Schutz ihrer Bevölkerung. Diese Ziele sollten eng gefasst sein: Anstatt zu versuchen, ihr gesamtes Territorium von vor 2014 zurückzuerobern oder die russische Führung zu bestrafen, sollte die Ukraine Ziele verfolgen, die weniger wahrscheinlich zu einer dramatischen Eskalation führen und eher zu einem dauerhaften Frieden führen. Washington sollte dazu ermutigen, diese Ziele zu verfolgen, und sollte Kiew zumindest privat klarmachen, wo die Grenzen der amerikanischen Unterstützung liegen und was das Weiße Haus als inakzeptable Eskalationsrisiken ansieht. Klare Erwartungen zu setzen, verringert jetzt das Risiko von Fehlwahrnehmungen in Kiew.
Daher müssen sich die politischen Entscheidungsträger auf Putin und die kleine Gruppe von Eliten um ihn herum konzentrieren und überlegen, welche Lösung sie bereit sind zu akzeptieren. Angesichts Putins Mobilisierung von mehreren hunderttausend zusätzlichenFrontsoldaten scheint es immer klarer, dass er versuchen wird, einen vollständigen, verheerenden Verlust um jeden Preis zu vermeiden. Aber wie viele andere Autoritäre vor ihm kann er ein schlechtes Ergebnis als Sieg verkaufen. Dies bedeutet, dass es möglich sein könnte, ein gesichtswahrendes Abkommen zu finden, in dem de facto Realitäten, wie die russische rechtliche Kontrolle der Krim, anerkannt werden könnten und die der Kreml der russischen Öffentlichkeit als echte Zugeständnisse des Westens darstellen könnte. …
Einige Punkte sind nicht verhandelbar. An erster Stelle stehen die Souveränität der Ukraine und der Schutz der ukrainischen Bürger, insbesondere derjenigen, die das russisch besetzte Gebiet verlassen wollen. Aber es gibt noch andere Themen, bei denen Flexibilität möglich ist. Endgültige territoriale Grenzen können beispielsweise teilweise durch militärische Gewinne vor Ort bestimmt werden. Die politischen Entscheidungsträger sollten sich nicht unwiderruflich dem Status quo vor dem 24. Februar oder sogar vor 2014 widmen. Eine territorial kompaktere Ukraine, die von der Krim und einem Teil des Donbas befreit ist – die beide pro-russische Bevölkerungen haben – könnte stabiler und verteidigungsfähiger sein.
Und im Allgemeinen sollten politische Entscheidungsträger versuchen, praktische Ergebnisse über abstrakte Prinzipien zu stellen. Eine unabhängige souveräne Ukraine, die sich verteidigen und wirtschaftlich in Europa integrieren kann, wäre beispielsweise einer Ukraine mit permanenten territorialen Streitigkeiten innerhalb ihrer Grenzen weit vorzuziehen.
Solch einen Text kann man schwer einschätzen, wenn man nicht mit der ThinkTank-Szene in den USA vertraut ist.
Er reflektiert zutreffend die Sackgasse der gegenwärtigen Ukraine-Politik des Westens: Es kann Schwierigkeiten geben und man muss eine Vorstellung davon haben, wo man hin will.
Und so zeigt er, dass das Mantra der Souveränität der Ukraine, das jedem Kritiker des gegenwärtigen Kurses entgegen gehalten wird, letztlich taktisches Gerede ist, das im Zweifel nicht viel gilt: Wenn es schwierig wird, wird der ukrainischen Regierung in klammen Zimmern mitgeteilt, was geht und was nicht geht. Die Regierung in Kiew kann nicht sicher sein, dass es ihr anders ergehen wird als den Regierungen von Saigon oder Kabul, wenn die USA zu dem Schluss kommen, dass nun genug ist.
Dann hat die Ukraine sich mit jenem Territorium zu begnügen, für das Russland keinen Ärger macht.
Man könnte das für ein realistisches Herangehen an den Krieg und die Möglichkeiten seiner Beendigung halten. Nur: Ein dauerhafter Frieden setzt die Zustimmung der Menschen in den betreffenden Gegenden voraus, egal ob diese oder jene. Ohne diese Zustimmung mag das Schießen beendet sein, der Krieg ist es nicht und der Frieden ist nicht gewonnen.
3.5 Wie müsste ein dauerhafter Frieden aussehen?
Zuerst einmal das unzureichende Herangehen an diese Frage durchaus guter, um den Frieden besorgter Leute: Wie kann ein Kompromiss zwischen den kriegführenden Staaten / Parteien aussehen? Welche territorialen Veränderungen sind zu wessen Gunsten und zu wessen Nachteil möglich oder gar erforderlich? – Auf diese Weise werden Zonen der Konflikte für den nächsten Krieg geschaffen.
Es muss um einen Frieden gehen, der dauerhaft sein kann, und zwar unabhängig vom militärischen Verlauf und Ausgang des Kriegs. Ein Frieden, der die Interessen der Staaten und der Menschen nicht in den Mittelpunkt stellt, wird scheitern. Für Großstrategen ist bei Friedensverhandlungen kein Platz. Deshalb ist auch schon jetzt für beide Seiten unsinnig, im Krieg um möglichst günstige Ausgangspositionen für Verhandlungen zu kämpfen. Soll der Frieden dauerhaft sein, werden militärische Erfolge im Krieg nur ein Faktor unter vielen sein und vermutlich noch nicht einmal die wichtigsten.
Es muss ein „demokratischer Frieden“ sein, mit dem die weit überwiegende Mehrheit der Menschen der verfeindeten Staaten und Bevölkerungsgruppen sich identifizieren kann111.
Die Prinzipien solch eines Friedens sind, wie schon gesagt, bekannt, die Charta von Paris enthält sie: Demokratie im Inneren, Sicherheitspartnerschaft nach außen112. Allerdings müssen die Mängel dieses Textes von 1990 in den Blick genommen werden: Nicht hinreichende Beachtung und Regelung der inneren Vielfalt der Staaten, fehlende Mechanismen bei der Konfliktregulierung.
Ihre Umsetzung verlangt eine Betrachtung der verschiedenen Dimensionen dieses Konflikts, der jetzt gewaltsam als Krieg ausgetragen wird. Jede dieser Dimensionen muss berücksichtigt werden. Dieser Krieg ist113:
- (auch wenn es immer wieder bestritten wird) ein ukrainischer Bürgerkrieg,
- ein Krieg zwischen zwei Nachbarstaaten um große Territorien des einen Staates,
- ein Krieg um die Sicherheit in Ganz-Europa,
- ein Krieg zwischen Russland und den USA114.
Eine Lösung muss auf diesen vier Ebenen zu befriedenden Lösungen führen. Lässt man eine der Ebenen weg, könnte ein Frieden nur eine Etappe auf dem Weg zum nächsten Krieg sein.
Die Lage wird immer verfahrener, weil die Kriegsparteien sich inzwischen selbst binden: Russland mit seinen Annektionen und Kiew mit einem (neuen) Verhandlungsverbot115. Diese Blockaden müssen fallen, wenn mehr als ein „negativer Friede“116 angestrebt werden soll. Kiew wird dabei eher leicht zu beeinflussen sein, denn es hängt am Geld und den Lieferungen anderer Staaten. Schwieriger ist es mit Russland. Wie Russland jetzt zu einer Änderung seines Verhaltens veranlasst werden kann, weiß niemand. (Es nützt nicht viel zu wissen, dass es noch vor ein paar Monaten eher einfach gewesen wäre) Deshalb sind Initiativen wie der Friedensappell des Papstes117 oder der Vorschlag von Elon Musk118 von so großer Bedeutung: Sie halten die Friedensunruhe wach, stoppen das „Da kann man ja doch nichts machen!“ auch dann, wenn es momentan keinen sichtbaren Weg gibt.
Als Frieden kann nur ein Zustand bezeichnet werden, der nicht den Keim zum nächsten Krieg wieder in sich trägt. Daraus ergeben sich in Anwendung der Charta von Paris Anforderungen für einen Frieden, der den Krieg beenden kann, ohne einen neuen vorzubereiten:
- Außenpolitisch:
- die Ukraine wird in den Grenzen von 2013 wieder hergestellt,
- sie ist ein bündnisfreier Staat, weil ihre Nato-Mitgliedschaft unter der Annahme einer mindestens unterschwelligen Feindschaft/Gegnerschaft einiger osteuropäischer Staaten die Kräfteverhältnisse in Europa ungünstig beeinflussen würde,
- die Mitgliedschaft in der EU und anderen internationalen Vereinigungen steht ihr offen,
- ein militärisches Vertrauensprogramm zwischen Russland und den anderen osteuropäischen Staaten wird entwickelt, zB gegenseitige Mitteilungen, gegenseitig Inspektionen.
- Innenpolitisch:
- Die Ukraine entwickelt eine repräsentative, föderalistische und pluralistische Demokratie mit einem weit ausgestalteten vielfältigen Institutionenwesen,
- sie orientiert sich sprach- und kulturpolitisch an der Schweiz, indem die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Sprachen im Staat und seinen Diensten, in der Öffentlichkeit, im Bildungswesen und im Kulturbereich festgeschrieben und aktive entwickelt wird119.
- Alle am Krieg beteiligten Staaten, insbesondere Russland, leisten einen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes.
Es könnte sein, dass solch ein Zustand nur über viele Zwischenschritte zu erreichen ist, wie es das Papier der Arbeitgruppe aus dem Vatikan vorschlägt. Demokratische Politik kann sich vielleicht auch unter der Bedingung der Stationierung fremder, gar feindlicher Truppen entwickeln. Oder die Zugehörigkeit einiger Gebietsteile wird über Volksabstimmungen geregelt.
Natürlich reicht das noch nicht. Wenn dieses eine Land über einen Friedensvertrag demokratisiert und auf die genaue Beachtung der Beteiligung aller ethnischen etc. Gruppen verpflichtet wird, muss dasselbe auch in allen umliegenden Staaten geschehen. Das betrifft hinsichtlich der Demokratie natürlich Russland, aber auch Polen, hinsichtlich der Minderheitenrechte die baltischen Republiken und vermutlich auch Russland.
Ein dauerhaft gefestigter Friede setzt intensiven kulturellen und vor allem auch geschichtspolitischen Austausch voraus. Nichts wird schnell gehen.
Das bedeutet für die vier Ebenen des Konfliktes/Kriegs:
- Eine Gleichberechtigung der Sprachen, Religionen und kulturellen Besonderheiten der verschiedenen Gruppen in der Ukraine soll die inneren Auseinandersetzungen beenden,
- die territoriale Integrität der Ukraine (Stand 2013) wird wieder hergestellt; es sind jedoch genau auszuhandelnde Kooperations- und Übergangslösungen möglich,
- die Sicherheit der Ukraine wird in einem auf der Charta von Paris aufbauenden, völkerrechtlich gültigen Vertrag gewährleistet, sie kann Mitglied der EU, aber nicht der Nato werden,
- Die USA, Russland und die Ukraine schließen einen Vertrag über die immerwährende Neutraliät der Ukraine.
Konkret120:
„In der Vielzahl der inzwischen vorliegenden Vorschläge kristallisieren sich als Kern folgende Punkte heraus:
- als erstes muss ein Waffenstillstand zustande kommen;
- dazu wird es Vermittler bedürfen. In Frage kommen dafür die UNO und neutrale Staaten, gegebenenfalls in Kombination;
- der Waffenstillstand könnte Ausgangspunkt für die Bildung einer entmilitarisierten Zone werden, in der UNO-Blauhelme stationiert werden;
- die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien. Die könnten durch Garantiemächte gewährleistet werden, am besten durch solche, die nicht Konfliktpartei sind, wie Indien, die Türkei oder Südafrika, ggf. aber auch gemischt mit Partnern beider Seiten;
- für die russischen Interessen ist zentral, dass die Ukraine nicht zum militärischen Brückenkopf von USA/NATO wird;
- für die Lösung der Territorialfragen könnten nach einigen Jahren Volksabstimmungen unter internationaler Aufsicht durchgeführt werden. Modell könnte das Saarland sein, das nach dem Krieg zehn Jahre unter französischer Verwaltung stand. 1955 entschieden sich 67,7 Prozent der Saarländer für den Beitritt zur Bundesrepublik. Die unterlegene Minderheit muss die Option zum Wechsel in das andere Land haben, flankiert durch soziale Unterstützung;
- als positiver Anreiz ist ein internationales Wiederaufbauprogramm für alle vom Krieg betroffenen Regionen aufzulegen, auch der unter russischer Kontrolle;
- die Sanktionen werden Zug um Zug abgebaut;
- Als weiterer Anreiz für Russland werden Verhandlungen zur strategischen Rüstungskontrolle gestartet;
- als längerfristige Perspektive beginnt eine Konferenz über eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur.
So oder so ähnlich sähe die Agenda einer Friedenskonferenz aus. Sie wäre schwierig und würde mit Rückschlägen zu kämpfen haben. Und natürlich würden alle Seiten Kröten schlucken und Maximalpositionen aufgeben müssen. Aber das gehört nun mal zum Wesen des Kompromisses.
Das Procedere der Implementation eines solchen Friedens – Welche Macht steht wo mit ihrem Truppen? Gibt es längere Besatzungsverhältnisse und / oder Stationierungen? Sind internationale Hochkommissare nötig, die die örtlichen Selbstverwaltungen anleiten121? Müssen Bevölkerungsgruppen getrennt werden? Jetzt, für eine Übergangszeit, für immer? – kann gar nicht vorher gesagt werden, da wird man sehen müssen.
Europäische Politik, die solch eine Ziele verfolgen will, müsste allerdings ihr Verhältnis zu den USA überdenken, das wäre wohl der schwierigste Teil der Politik122.
Was muss sofort passieren? Meine – unmaßgebliche – Meinung:
- Sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen, durch beide Seiten, ohne alle ultimativen Vorbehalte, egal, ob die jeweiligen Kriegsziele schon erreicht sind oder nicht. Jeder Tag länger tötet mehr.
- Und danach Friedensverhandlungen auf der Basis der oben genannten Prinzipien.
Die wichtigste Frage der aktuellen Gegenwart ist damit aber immer noch nicht beantwortet: Wie kommt man denn zu solchen Verhandlungen, zuerst Waffenstillstand, dann Frieden? Schließlich will doch der Westen / will doch Russland keine Verhandlungen. Und dann kann man mit niemandem reden. – Dabei ist er Beginn ganz einfach: Biden ruft Putin – Putin ruft Biden an. Der Hörer wird schon abgenommen werden. Man einigt sich natürlich nicht sofort, denn die Gegensätze sind zu groß. – Aber die fehlende moralische Berechtigung bringt vorhersehbare politische Schwierigkeiten für beide Seiten. – Gut möglich, sogar wahrscheinlich, dass weitere Gespräche vereinbart werden, zunächst auf niedriger Ebene, damit man überhaupt eine Vorstellung von den Motiven und Zielen der anderen Seite bekommt, an die die eigenen Vorschläge anschließen können.
Wichtig ist, dass die Völker Verhandlungen verlangen. Wir brauchen eine politische Bewegung, die solche Verhandlungen fordert. Sie allein wird es nicht schaffen, es werden politische Änderungen in den beteiligten Staaten und zwischen ihnen hinzukommen müssen. – Aber ohne solch eine Bewegung aus den Völkern der betreffenden Staaten wird es auch nicht gelingen.
3.6 Neue Entwicklungen und Folgerungen
3.6.1 Neue russische Konzeption?
Stimmen denn die Voraussetzungen? Hat der Krieg diese Welt nicht verändert, geradezu zerstört?
Friedensbewegt ist man in der Überlieferung der KSZE und der Charta von Paris: Staaten garantieren / organisieren sich ihre Sicherheit auf Gegenseitigkeit. Alle Staaten sind beteiligt, achten gegenseitig die Souveränität und territoriale Integrität. Sie entwickeln ein Institutionensystem der Zusammenarbeit, gegenseitigen Sicherheit, Konsultation und Konfliktbeilegung, das sie immer weiter vertiefen. Vor allem stehen sie nicht in Bündnissen gegeneinander.
Im Inneren sind diese Staaten demokratisch, wie auch immer man das organisiert, die Grundrechte sind die Basis der politischen Beteiligung, die Freiheitsrechte werden geachtet. Minderheiten, seien sie ethnisch, sprachlich, religiös oder sonstwie von der Mehrheit unterschieden, haben nicht nur alle Freiheiten, sie werden vom Staat auch gefördert, zB im Bereich von Schule und Bildung.
Der Friede der Charta von Paris ist in Europa ist nach mehr als 30 Jahre aus der öffentlichen Diskussion so gut wie verschwunden. Die Ursache dafür kann man darin suchen, dass eine der großen Mächte, Russland, mit minderen Rechten abgefunden werden sollte: Alle anderen Staaten sollten das Recht haben, sich vorsorglich schon mal gegen es zu verbünden. Das Übereinander von Gegenseitiger Sicherheit aller und Vereinter Sicherheit gegen einen musste, wie vorher gesagt, scheitern.
Aber dennoch, friedensbewegt weiß man, mit Kant, keine Alternative: Der neue Frieden nach dem Krieg des 24.02.2022 kann, wenn er dauerhaft sein soll, auf keinen anderen Prinzipien beruhen. Wenn nicht, ist er nur die Etappe zum nächsten Krieg.
Jedoch: Finden sich denn bei den Vertragspartnern eines zukünftigen Friedens die notwendigen politisch-ideologischen Voraussetzungen?
Der Westen hat seine Position zur Charta nicht geändert, jedenfalls nicht offiziell, aber es herrscht weiterhin eine selektive Interpretation der Charta vor: Jeder könne, ohne Rücksicht auf alle anderen, Bündnispolitik machen, wie er will, Einwände seien unerlaubt.
Anders dagegen Russland. In den Begründungen seiner Vertragsentwürfe vom Dezember 2021 bezog es sich auf die KSZE, auf die Charta von Paris123, das Istanbul Dokument124 und sogar auf die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Das alles findet man in aktuellen russischen Texten125 nicht mehr.
Da ist zunächst der Text von Sergei Karaganow: „Russlands neue Außenpolitik, die Putin-Doktrin“126 vom 26.02.2021 (Man beachte das Datum, der Text ist wohl vor dem 24.02.2022, dem Kriegsbeginn, geschrieben). Seine These ist, dass Russland sich von allen nach 1991 eingegangenen Bindungen befreit, um eine neue selbständige Außenpolitik zu entwickeln, die auf ein nach Osten ausgerichtetes Bündnis zielt. Einige Auszüge:
Ein weiterer Trumpf ist die dominierende Rolle des Westens im bestehenden euro-atlantischen Sicherheitssystem, das zu einer Zeit geschaffen wurde, als Russland nach dem Kalten Krieg stark geschwächt war. Es ist sinnvoll, dieses System allmählich zu beseitigen, vor allem indem man sich weigert, an ihm teilzunehmen und nach seinen veralteten Regeln zu spielen, die für uns von Natur aus nachteilig sind. Für Russland sollte die westliche Schiene gegenüber seiner eurasischen Diplomatie zweitrangig werden. Die Aufrechterhaltung konstruktiver Beziehungen zu den Ländern im westlichen Teil des Kontinents kann Russland die Integration in den eurasischen Großraum erleichtern. Das alte System steht jedoch im Weg und sollte daher abgebaut werden. …
Die schön formulierte Charta von Paris für ein neues Europa, die 1990 unterzeichnet wurde, enthielt eine Erklärung über die Assoziationsfreiheit – die Länder konnten sich ihre Verbündeten aussuchen, … Damals, 1990, konnte die NATO jedoch zumindest als „Verteidigungs“-Organisation bezeichnet werden. Das Bündnis und die meisten seiner Mitglieder haben seitdem eine Reihe aggressiver Militäraktionen durchgeführt – gegen die Überreste Jugoslawiens, aber auch im Irak und in Libyen. …
1997 unterzeichnete das wirtschaftlich schwache und vom Westen völlig abhängige Russland die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit mit der NATO. Moskau gelang es, dem Westen bestimmte Zugeständnisse abzuringen, wie etwa die Zusage, keine großen militärischen Einheiten in die neuen Mitgliedstaaten zu entsenden. Gegen diese Verpflichtung hat die NATO konsequent verstoßen…. In Wirklichkeit legitimierte das Dokument die Expansion der NATO. …
Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist überholt. Sie wird von der NATO und der EU dominiert, die die Organisation nutzen, um die Konfrontation in die Länge zu ziehen und die politischen Werte und Normen des Westens allen anderen aufzuzwingen. … In den 1990er-Jahren diente sie als Instrument, um jeden Versuch Russlands oder anderer, ein gemeinsames europäisches Sicherheitssystem zu schaffen, zu begraben; …
Der vielversprechendste Weg für Russland liegt in der Entwicklung und Stärkung der Beziehungen zu China. Eine Partnerschaft mit Peking würde das Potenzial beider Länder um ein Vielfaches steigern. Wenn der Westen seine erbittert feindselige Politik fortsetzt, wäre es nicht unvernünftig, ein zeitlich begrenztes fünfjähriges Verteidigungsbündnis mit China in Betracht zu ziehen.
Mag sein, dass die russische Führung darauf hoffte, nach einem schnellen Sieg über die Ukraine an einen Neuaufbau der internationalen Beziehungen zu gehen, dem der Westen sich letztlich anschließen müsse. Russland hat zwar große Landgewinne gemacht, aber keinen Sieg über die ukrainische Regierung erzielt. Und ob diese territorialen Erfolge dauerhaft bleiben werden, ist noch nicht ausgemacht. Ohne Sieg in Kiew ist aber eine politische Lösung, die die ganze Ukraine umfasst, für Russland nicht möglich.
Der Anschluss der vier Oblaste Donezk und Lugansk, Cherson und Saporoschje ist Folge einer notwendigen Umorientierung: Behalten wollen, was man hat; eine Maßnahme der Frontbefestigung auf dem Rückzug. Denn sie bedeutet, dass Russland die Gebiete westlich dieser Bezirke der ukrainischen Regierung, damit letztlich dem Zugriff der Nato überlässt.
Putins Rede vom 21.09.2022 zur Eingliederung nimmt keinen Bezug mehr auf europäische Sicherheitssysteme, sondern baut auf einem Gegensatz zwischen dem Westen, unter der Hegemonie der USA, und Russland127:
Wie Sie wissen, in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk, in den Regionen Saporischschja und Cherson wurden Volksabstimmungen abgehalten. Ihre Ergebnisse wurden zusammengefasst, die Ergebnisse sind bekannt. Die Menschen haben ihre Wahl getroffen, eine eindeutige Entscheidung. …
Und das ist natürlich ihr Recht, ihr unveräußerliches Recht, das im ersten Artikel der UN-Charta verankert ist, der ausdrücklich das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker festlegt128. …
Hinter der Wahl von Millionen Einwohnern in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk, in den Regionen Saporoshje und Cherson steht unser gemeinsames Schicksal und unsere tausendjährige Geschichte. Die Menschen gaben diese spirituelle Verbindung an ihre Kinder und Enkelkinder weiter. Trotz aller Prüfungen trugen sie durch die Jahre die Liebe zu Russland. …
Es gibt keine Sowjetunion, die Vergangenheit kann nicht zurückgegeben werden. Und Russland braucht sie (= die Sowjetunion?) heute nicht, wir streben nicht danach. …
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entschied der Westen, dass die Welt, wir alle, uns für immer mit ihren Diktaten abfinden müssten. Dann, 1991, hoffte der Westen, dass Russland sich von solchen Umbrüchen nicht erholen und weiterhin von selbst zerfallen würde. Ja, es wäre fast passiert – wir erinnern uns an die 90er, die schrecklichen 90er, hungrig, kalt und hoffnungslos. Aber Russland hat Widerstand geleistet, wiederbelebt, gestärkt und seinen rechtmäßigen Platz in der Welt wiedererlangt.
Gleichzeitig suchte und sucht der Westen nach einer neuen Chance, uns zu treffen, Russland zu schwächen und zu zerstören, von dem immer geträumt wurde, unseren Staat zu zersplittern, Völker gegeneinander auszuspielen, sie zu Armut und Auslöschung zu verurteilen. Es verfolgt sie einfach, dass es ein so großes, riesiges Land auf der Welt gibt mit seinem Territorium, seinen natürlichen Ressourcen, seinen Ressourcen, mit einem Volk, das niemals nach den Befehlen eines anderen leben kann und wird. …
Washington fordert immer mehr Sanktionen gegen Russland, und die meisten europäischen Politiker stimmen dem pflichtbewusst zu. Sie verstehen klar, dass die Vereinigten Staaten, die auf die vollständige Ablehnung russischer Energie und anderer Ressourcen durch die EU drängen, praktisch daran arbeiten, Europa zu deindustrialisieren, den europäischen Markt vollständig zu übernehmen – sie verstehen alles, diese Eliten sind Europäer, sie verstehen alles, sie ziehen es vor, den Interessen anderer Menschen zu dienen. Dies ist kein Lakai mehr, sondern ein direkter Verrat an ihren Völkern. Aber Gott ist mit ihnen, es ist ihre Sache. …
Die Rede enthält keinerlei Aussagen über einen zukünftigen Frieden, weder über einen Weg dort hin noch über seine Gestaltung. Man könnte sagen, dass das auch nicht das Thema der Rede ist.
Jedoch wäre Auskunft darüber zu erwarten gewesen, wie dieser Anschluss der vier Oblaste international durchgesetzt werden kann. Das ist ja keine formale Kleinigkeit, die sich irgendwo in den Höhen des Staats- und Völkerrechts abspielt. Es geht vielmehr um alltäglich-handfest-praktische Dinge. Dass internationale Kreditkarten dort am Geldautomat nicht funktionieren, dürfte das geringste Problem sein. Alles, was irgendeine Amtlichkeit braucht und von dort kommt, wird international nicht gültig sein, Zeugnisse beispielsweise. Die russische Außenpolitik müsste bemüht sein, in ein paar Jahren einen modus vivendi zu schaffen.
Aber von all dem nichts in Putins Rede. Die scharfen Angriffe gegen den Westen helfen da auch nicht weiter.
Nach dieser Rede Putins hat RT einen Text des russischen Politologen Geworg Mirsajan über die Möglichkeiten von Verhandlungen veröffentlicht129:
Moskau wird bei den Verhandlungen über das Ende des Ukraine-Konflikts nicht mehr die ersten Schritte in Richtung Westen unternehmen. Das sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow. …
Diese Aussage ist ziemlich drastisch, wenn man bedenkt, dass Moskau in all diesen Monaten immer wieder seine Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung aller Kontroversen um die Ukraine demonstriert hat (natürlich auf der Grundlage der Ziele, die Präsident Putin vor Beginn der militärischen Sonderoperation festgelegt hat – d. h. Entnazifizierung, Entmilitarisierung usw.). … Und nun hat sich die Situation „vor Ort“ geändert.
Und vor allem hat sie sich dank der Referenden in den befreiten Gebieten verändert. Referenden, nach deren Ergebnissen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie die Regionen Cherson und Saporoschje in ihren ‚Heimathafen Russland‘ zurückkehren.
Die Angliederung der befreiten Gebiete an Russland wird zu einer Art Punkt ohne Wiederkehr. Für Moskau wird es nicht mehr möglich sein, über die Rückkehr dieser Gebiete unter die Kontrolle des Kiewer Regimes zu verhandeln. Schon die Aufnahme solcher Verhandlungen wäre ein Verstoß gegen die russische Verfassung, denn das Grundgesetz des Landes verbietet es, auch nur über die Frage der Abtrennung russischer Regionen zu sprechen. …
Schließlich sind Friedensgespräche auch deshalb unwahrscheinlich, weil Russland nach Ansicht vieler Experten eine spezielle Militäroperation nicht durchführen kann, ohne eine Reihe anderer Regionen unter ukrainischer Kontrolle zu befreien. Zumindest die Regionen Sumy, Charkow und Tschernigow (um die „Flugdistanz“ von 400 Kilometern zwischen ukrainischem Territorium und Moskau zu erhöhen) sowie die Regionen Nikolajew und Odessa. …
Und das nicht nur, weil diese Regionen derzeit der einzige Zugang der verbliebenen Ukraine zum Schwarzen Meer sind, sondern weil die Kontrolle über diese Regionen einen Landzugang zu Transnistrien ermöglichen würde. In dieser selbsternannten Republik leben bis zu eine halbe Million russische Bürger, deren Sicherheit von mehreren Tausend dort stationierten russischen Soldaten gewährleistet wird. …
Daher wird entweder ein Teil der Friedensgespräche darin bestehen, einen territorialen Korridor für Transnistrien zu sichern, der nicht unter ukrainischer Kontrolle steht … Oder Russland wird diesen Korridor selbst einrichten müssen. Es gibt keine dritte Option, zum Beispiel in Form von Garantien des Westens für die Unverletzlichkeit Transnistriens. Die Vereinigten Staaten können uns jetzt viel versprechen…. und uns dann einfach täuschen. Aber wir lassen uns nicht mehr gerne täuschen.
Man kann im Westen kaum wissen, ob der Kommentator hier nur seine eigene Meinung wieder gibt oder ob er den Standpunkt der Regierung wieder gibt. Unterstellt man die härteste Absicht, dann ist dies die russische Ankündigung, den Krieg bis zum Anschluss der Oblaste Mikolajew und Odessa fort zu setzen. Die Ukraine wäre im Fall eines russischen Erfolgs nicht nur vom Schwarzen Meer abgeschnitten, also für einen Seezugang von Russland abhängig, es wäre wirtschaftlich schwer getroffen130 Die von Russland abgetrennten Bezirke sind die wirtschaftsstärksten. Die „Rest-Ukraine“ wäre möglicherweise nur noch mit ständigen westlichen Zuwendungen lebensfähig.
Ein weiterer Text aus RT, auch in diesem Fall ist der Autor Dmitri Trenin Professor an einer wichtigen Hochschule131. Er trägt die Überschrift „Putin verkündet neue nationale Idee und gibt Traum eines Großeuropas auf“.
Die kürzlich erfolgte Ansprache des russischen Präsidenten beinhaltet eine neue Vision für sein Land. Diese sieht vor, das gespaltene russische Volk und dessen Lebensräume wieder zu vereinen. Die Vorstellung eines Großeuropas von Lissabon bis Wladiwostok wird es aber so nicht mehr geben.
Während seiner vier Legislaturperioden als Lenker des russischen Staates hat Wladimir Putin viele Reden von internationaler Tragweite gehalten. Viele davon stechen heraus als Dreh- und Angelpunkte in der Herausbildung einer neuen außenpolitischen Ausrichtung Moskaus.
Damals im Oktober 2001, als er den Berliner Bundestag auf Deutsch ansprach, verkündete Putin Russlands ‚Europäische Wahl‘. Im Februar 2007, als er auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine Rede hielt, griff er Amerikas globale Vorherrschaft an und legte Russlands Bedingungen für seine Beziehungen zum Westen dar. Im März 2014 wiederum hieß Putin im Kreml die Krim sowie Sewastopol bei ihrem Beitritt zu Russland willkommen, wodurch sich das Staatsgebiet erstmalig seit dem Zusammenfall der Sowjetunion wieder ausdehnte. Seine neueste Rede, die er ebenfalls im Georgssaal des Kremls hielt, verdient besondere Aufmerksamkeit als außenpolitisches Manifest, das heute einen Kurs des systematischen Widerstandes zum Westen aufzeigt.
Das auffälligste Merkmal der Rede war, wie wenig Zeit der Ukraine gewidmet wurde – abgesehen von ihren ehemaligen vier Regionen, die Russland beigetreten sind. Moskaus Schlüsselforderungen, wie Kiews neutraler Status, Demilitarisierung und Entnazifizierung, fanden keine Erwähnung. …
Der russische Präsident behauptete …, dass das Volk ein unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung habe, basierend auf seiner historischen Identität. Der Beweis, den er hierfür lieferte, war die überschwängliche Unterstützung für die Idee, dass die ehemaligen ukrainischen Regionen der Russischen Föderation beitreten, was durch die Referenden in Donetsk, Lugansk, Cherson und Saporoschje zum Ausdruck kam.
Die Botschaft war, dass wir im Jahr 2022 teilweise eine Revision der Katastrophe von 1991 erleben würden. …
Das gespaltene russische Volk und dessen Lebensräume wied er zu vereinen, ist im Grunde das Hauptelement der neuen russischen Idee, die Putin seinen Landsleuten anbietet. …
Putins Konzept macht hier jedoch noch nicht Halt. Es geht nicht so sehr um die Wiederherstellung der Sowjetunion: Eine solche Wiederherstellung ist nach Putins Worten nicht das Ziel Moskaus. Das Baltikum, der Südkaukasus und Zentralasien sind wahrscheinlich nicht als Teil des neuen Konstrukts vorgesehen. Wie Außenminister Sergei Lawrow in der Staatsduma andeutete, könnten allerdings in Zukunft andere ukrainische Regionen die Chance erhalten, Cherson und Saporoschje zu folgen.
Für Putin ist Großrussland eine eigenständige Zivilisation, die sich nicht nur der hegemonialen Politik Amerikas widersetzt, sondern auch der Projektion der westlichen Werte als universelle Werte. Dies ist nicht nur eine Kehrtwende gegenüber Gorbatschows Träumereien über ein gemeinsames europäisches Haus, sondern auch gegenüber Putins eigenen Ambitionen, ein Großeuropa von Lissabon bis Wladiwostok zu schmieden, und seinen Bemühungen, einen Weg für den NATO-Beitritt Russlands zu finden.
Ein Großeuropa hat es nicht gegeben; ein Großasien, das Russland einschließt, ist de facto im Entstehen begriffen.
1991 hat das russische Volk auseinander gerissen, der größte Teil lebt in der russischen Föderation, aber es leben auch sehr viele Russen, etwa 25 Millionen, in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion132. Wie ist die Bemerkung zu verstehen, nach den angeschlossenen Oblasten der Ukraine könne es weitere Gegenden geben, die diesen Weg gehen sollten? Ist damit, wie naheliegend, der staatliche Anschluss gemeint? Oder soll es sich „nur“ um eine eigenständige Art von Kultur handeln, die über mehrere Staaten verteilt sein kann133?
Nichts dagegen, wenn Russen quer über die Welt ihre Gemeinsamkeiten pflegen, jedenfalls dann nicht, wenn solche Kulturpflege auch für andere Staaten und Völker eine Möglichkeit ist, sich selbst zu leben.
Wenn aber mit einer solchen Politik in die Hoheit von Nachbarstaaten eingegriffen wird, wird es gefährlich.
3.6.2 Folgerungen für die Friedensbewegung
Vom Europa der Charta von Paris ist momentan in den Texten der russischen Politik nichts zu lesen, eine Wiederherstellung der Charta, gar ihre endgültige Realisierung findet sich nicht in diesen Texten.
Stattdessen lässt sich diese Politik so umreißen: Ziel ist, angesichts westlicher Herausforderungen so stark zu werden wie irgend möglich. Dazu gehört eine Politik der „Sammlung der russischen Erde“134. 2014 ging es um die Krim und den Donbass, jetzt wieder um den Donbass und weitere Teile der Ukraine. Es kann sein, dass diese Politik in / auf weiter Staaten der ehemaligen Sowjetunion ausggreifen wird, wobei nicht klar ist, zu welche staatsrechtlichen Formen sie führen soll. (Man kann diese Politik als konzeptionelle Antwort auf die Nato-Ost-Erweiterung lesen.)
Ob diese Politik Anerkennung im Westen findet, ist gleichgültig. Stattdessen wird das Bündnis nach Osten und in den Süden gesucht, neuerdings sogar bis in die Südhalbkugel der Erde. Die Front wird ausgeweitet, nicht mehr nur Ost-Europa ist das Feld des Kampfes, dort ist Russland nicht eben erfolgreich, sondern das nähere Ausland in Asien, aber auch in Afrika und Lateinamerika. Dass Russland dabei erfolglos wäre, kann man kaum sagen135.
Aber das hilft dem Frieden in Europa nicht. Russland hat gegenwärtig kein Konzept für den Frieden, über das man sagen könnte, der Westen möge es in Verhandlungen austesten. Hätte der Westen 1952 mit der Sowjetunion über die „Stalin-Note“ gesprochen, wären die deutsche Geschichte und die der Welt möglicherweise anders verlaufen. Aber ein vergleichbar historisches Angebot Russlands ist gegenwärtig nicht in Sicht. Russland hat auch kein friedenspolitisches Angebot an die europäische Öffentlichkeit. Die europäische Friedensbewegung ist ihm egal, denn sie ist ohne wirkliche politische Bedeutung. Das alles unterscheidet Putins (jetzige) Außenpolitik grundlegend von der der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder136.
Momentan wird in Deutschland immer wieder verlangt, der Westen möge eine Initiative für Friedensverhandlungen starten, um beispielsweise den Krieg in der Ukraine „einzufrieren“137. Das meint, dass alle Kampfhandlungen zu einem vereinbarten Zeitpunkt eingestellt werden und die Politik in Verhandlungen zum Frieden übergehen soll. Russland hat eroberte Gebiete, der Westen die Russland schädigen Sanktionen, da müsste doch ein Austausch möglich sein, der langsam, ganz langsam wieder zu einem kooperativen Europa führt. Bis vor den Referenden war diese Forderung politisch einleuchtend, sie zeigte ein Procedere.
Aber der Anschluss der vier Bezirke hat Russland selbst stärker gefesselt, als es westliche Sanktionen je vermocht hätten: Nun ist kein Übergang zu einem völkerrechtlich gesicherten Frieden mehr möglich, es sei denn, Russland macht seine Handlungen rückgängig. Da hätte es nicht nur (selbstgeschaffene) verfassungsrechtliche Probleme, es würde vor allem die eigene Armee und Teile der eigenen Bevölkerung desavouieren: Erst kämpfen und dann dem Feind überlassen? Erst den Anschluss des eigenen Territoriums unterstützen und dann einer möglicherweise rachsüchtigen ukrainischen Regierung und ihrer von Bandera durchtränkten Armee wieder überlassen werden?
Ein dauerhafter Frieden braucht die Zustimmung sowohl der Weltgemeinschaft, der Staaten der Region und der Menschen vor Ort. Vor dem Anschluss wäre es möglich gewesen, Übergangslösungen zu finden: Dieser und/oder jener Teil der Ukraine wird zeitweilig unter diese oder jene Verwaltung gestellt, gesichert durch UN-Truppen, mit eigener politischer Repräsentation und Volksabstimmungen. und wenn das alles länger dauert als vorgesehen, wäre das auch nicht weiter schlimm, außer für Nationalisten.
Aber nun?
Mit dem gegenwärtigen Russland ist gegenwärtig, ausgehend vom „Einfrieren“ des Konfliktes / Kriegs über einen vereinbarten Waffenstillstand, ein völkerrechtlich klarer dauerhafter Friede nur um den Preis einer beschädigten Ukraine zu haben: Die Ukraine gibt und Russland nimmt.
Man wird, wenn man die Fortsetzung des Kriegs bis zu einem (natürlich vom Westen) erzwungenen Waffenstillstand / Frieden nicht als Weg und Ziel sieht138, eine Lösung unterhalb des Völkerrechts suchen müssen. Die Ukraine erkennt die Anschlüsse an Russland (2014 und 2022) nicht an, aber es wird ein praktischer Umgang gesucht. Die Grenze wird teils wieder geöffnet, Handel und Wandel wird teilweise wieder möglich. Vorbild könnte der „Grundlagenvertrag“ BRD – DDR von 1972139 sein. Von dort her könnte vielleicht auch ein KSZE-Nachfolge-Prozess entwickelt werden, der die gescheiterte „Charta von Paris“ erneuert.
Es ist schwierig, am Schreibtisch Procedere und Inhalt solch eines Vertrags zu entwerfen, das Leben entwickelt sich dann doch anders. Aber die Richtung kann angegeben werden.
Einwand gegen diese zugegeben nicht sehr konkrete Perspektive: Was machen die USA in der Zwischenzeit? Ihr bisheriges Ziel, formuliert vom US-Verteidungsminister Austin im April in Kiew140:
Das Ziel der US-Regierung sei es, die Demokratie und die Souveränität der Ukraine zu verteidigen und Moskau in die Schranken zu weisen, sagte Austin. „Wir wollen Russland in dem Ausmaß geschwächt sehen, dass es die Art von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr machen kann.“
Im Oktober hat er kaum etwas anderes gesagt141:
Die Kontaktgruppe steht also geeint und entschlossen zusammen. Wir werden die Verteidigungskapazitäten der Ukraine weiter stärken – für den dringenden Bedarf von heute und auf lange Sicht.
Deshalb haben die Mitglieder dieser Gruppe der Ukraine neben humanitärer und finanzieller Hilfe auch Militärhilfe in Milliardenhöhe zugesagt. Wir haben zudem neue Investitionen in unser Rüstungswesen angeregt, um den Verteidigungsbedarf der Ukraine und auch unseren eigenen zu decken. Und meine Regierung ist fest entschlossen, der Ukraine zu helfen, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen.
Von Seiten der USA und der Nato gibt es auch keine Vorschläge, wie der Krieg beendet werden kann. Kritik an der russischen Politik kann also nicht zum Wechsel ins Nato-Lager führen.
Die Erklärung einer Arbeitsgruppe mit Jeffrey Sachs und Romano Prodi, die im Vatikan getagt hat, ist immer noch der beste Text142. Daran ändern auch die jüngsten politischen Ereignisse nichts143.
Fußnoten:
Ab und zu gehalten. – Dieser Text ist nicht die (vorgelesene) Grundlage des Vortrags. Sondern ich habe mir mit ihm nach Lehrerart erst einmal den Sachverhalt, den Gegenstand klar gemacht, über den zu reden ist, dazu wesentliches Material in den Fußnoten.
„Wenn eine Zeitung oder eine Online-Plattform – als Beispiel – zum Thema Ukraine Andreas Umland als «Ukraine-Experten» zu einem Kommentar einladen, dann wissen sie zum voraus, was sie erhalten: einen Text, der das politische und militärische Vorgehen der USA und der NATO gutheisst und alles, was von russischer Seite kommt, als inakzeptable Einmischung und/oder als reine Propaganda abtut – unabhängig, ob Umland dann in den «Blättern für deutsche und internationale Politik», in der NZZ oder auch auf der US-amerikanischen Plattform «History News Network» schreibt, wo auch immer. Das Beispiel Andreas Umland ist insofern eklatant, als man aus der Vita und dem CV und den bisherigen Publikationen dieses Mannes weiss – wissen muss! –, dass er ausschliesslich im einseitig euroatlantischen Interesse kommentiert.“
https://globalbridge.ch/so-fuehrt-das-verschweigen-von-fakten-zu-unwahrheit/ (Andreas Umland gilt übrigens auch der Bundeszentrale für politische Bildung als Experte z.B. https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-419/508280/kommentar-abschied-vom-wolkenkuckucksheim-deutschlands-langsamer-wiedereintritt-in-die-weltpolitik/)
Grundlegendere und weiter führende Literatur: https://www.westendverlag.de/buch/endspiel-europa-2/, https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/Nationale-Interessen/Klaus-von-Dohnanyi/Siedler/e597398.rhd
Bismarck, so sagt man, wollte 1871 Elsaß-Lothringen nicht für das Deutsche Reich annektieren. Die Franzosen würden sich damit nicht abfinden, sondern bei nächster Gelegenheit versuchen, es zurück zu gewinnen. Damit war politische Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich gesetzt, sie bestimmt die folgenden Jahrzehnt der Außenpolitik in Europa. Diese Eroberung mag die militärische Sicherheit erhäht haben, wie die Militärs argumentierten. Aber sie klemmte die deutsche und die französische Außenpolitik in Imperative ein, die die außenpolitische und damit letztlich auch die militärische Sicherheit grundlegend beeinträchtigten.
Ein Beispiel für politische Forderungen, die gegen Russland ein Versailles und Reims/Karlshorst gleichzeitig durchsetzen wollen und deshalb den Krieg bis ins Unendliche verlängern können: https://twitter.com/GLandsbergis/status/1568932265031520257
Die verstorbene ehemalige US-Außenministerin Albright soll einmal gesagt haben, in Osteuropa sei es deshalb oft so schwierig, zu politischen Vereinbarungen zu kommen, weil die Kriege und Feindschaften der Vergangenheit in jeder Verhandlung gegenwärtig seien, sind sie auch noch so lange her. Jede Vergangenheit ist auch Gegenwart.
Ich habe bei Twitter immer wieder die Expertise jener Expertise-Kritiker abgefragt. Das Ergebnis war regelmäßig enttäuschend. Politische Kenntnisse über den gegenwärtigen Konflikt / Krieg hat man nicht schon deshalb, weil man z.B. über die Ukraine des Jahres 1980 veröffentlicht hat.
Eigenes Urteil, nicht das des Lehrers, auch nicht das der Regierung oder einer anderen Institutionen, die ihren Standpunkt verbreitet sehen möchte. – Realistischerweise muss man jedoch sagen, dass allein die Auswahl des Materials mindenstens unbewusst eine Richtung nahe legt.
In Anlehnung an Überlegungen von Hannah Arendt zum Wesen von Politik. – Man kann diese Übrerlegungen aber auch von der Denkschrift des Rates der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ S. 52ff her lesen, die Abschnitte 77, 81, 84, 88 und 96. https://www.ekd.de/friedensdenkschrift.htm, https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_friedensdenkschrift.pdf
Allerdings: Diese Denkschrift legt zwar sehr nachvollziehbar die grundlegenden Prinzipien eines „gerechten Friedens“ dar, vermag es jedoch nicht, sie auf Europa zu beziehen. Es gibt nur eine kurze Erwähnung der OSZE, die „Charta von Paris“ und die Nato-Osterweiterung bleiben unerwähnt. Europäische Sicherheitsprobleme scheint es für die Denkschrift nicht zu geben. – So wundern die Stellungnahmen aus der EKD zum Ukraine-Krieg nicht. Ihnen gemeinsam ist, dass sie die sicherheitspolitisch umkämpfte Vorgeschichte des Konfliktes / Kriegs nicht zur Kenntnis nehmen. Sie scheint sich vor den 24.2.2022 mit den Problemen der europäischen Sicherheit gar nicht beschäftigt zu haben. – In den gegenwärtigen Diskussionen / Debatten um eine Beendigung dieses Kriegs spielt sie keine Rolle.
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Goralen, ein Völkchen in den polnischen und tschechischen Bergen, während der deutsch-polnischen Nationalitätenkämpfe gefragt wurden, so sie sich für Deutsche oder für Polen halten: Ihre Antwort soll verblüffte Staunen gewesen sein: „Wir sind die von hier … “ – Stattdessen: „Polen kämpfte gegen die Tschechoslowakei um Teschen, gegen Deutschland um Posen (→ Großpolnischer Aufstand) und gegen die Ukraine um Galizien (→ Polnisch-Ukrainischer Krieg). Seit Ende der Besetzung mit Kriegsende 1918 entwickelten sich Grenzkonflikte zwischen vielen unabhängig gewordenen Staaten Mittel- und Osteuropas: Rumänien kämpfte gegen Ungarn um Siebenbürgen, Jugoslawien gegen Italien um Rijeka; Ukrainer, Belarussen, Litauer, Esten und Letten bekämpften sich gegenseitig und/oder die Russen. Winston Churchill kommentierte bissig: ‚Der Krieg der Giganten ist zu Ende, der Hader der Pygmäen hat begonnen.’“ https://de.wikipedia.org/wiki/Polnisch-Sowjetischer_Krieg
https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/kanzler-namensartikel-foreign-affairs-2149014, Montag, 5. Dezember 2022, Ausgabe Januar / Februar 2023, https://www.foreignaffairs.com/germany/die-globale-zeitenwende, https://www.foreignaffairs.com/germany/olaf-scholz-global-zeitenwende-how-avoid-new-cold-war
Es war von Seiten der USA auch nie anders gewollt. „Die Rolle der Bush-Regierung lässt sich aufgrund neu zugänglicher Quellen inzwischen differenzierter rekonstruieren. Mary Elise Sarotte hat diesbezüglich bereits 2009 Pionierarbeit geleistet und mit ihrer „Prefab“-These die Basis für spätere Studien gelegt, in denen die Politik der US-Regierung neu interpretiert wird. Sie widersprach der bis dahin aufgrund der Memoirenliteratur vorherrschenden Sicht, wonach die Bush-Regierung mit ihrer Zurückhaltung und Passivität ein friedliches Ende des Kalten Krieges gefördert habe. Interne Akten zeigten ihr vielmehr, dass diese 1990 anstelle einer neuen kooperativen Sicherheitsstruktur inklusive der Sowjetunion bewusst eine NATO-Lösung und damit eine exklusive Sicherheitsordnung (ohne Moskau) förderte, die auf der fortwährenden US-Militärpräsenz in Europa beruhte und damit auch über den Kalten Krieg hinaus die US-Dominanz in Europa bestätigen würde.
Der Essay enthält vielmehr eine Reihe von Zitaten, die bestätigen, was Zeithistoriker in den vergangenen knapp zehn Jahren zu den Versprechen westlicher Staatsmänner von kooperativen Beziehungen und einer Stärkung einer inklusiven paneuropäischen Sicherheitsarchitektur geschrieben haben – Versprechen, die in internen Akten der Bush-Regierung als irreführende Rhetorik enttarnt worden sind. Die wahren Ziele der amerikanischen Europapolitik bestanden demnach 1989/90 in der Perpetuierung der NATO und weitergehenden US-Dominanz in Europa, die Sowjetunion sollte möglichst geschwächt und unten gehalten werden.“
https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2018-4007/html
Liest man diese Rede heute nach, erscheint sie im Ton als sittsam und gemäßigt. So ändern sich die Zeiten.
https://uncutnews.ch/unsere-europaeischen-werte-121-euro-mindestlohn-in-der-ukraine/ (Wenn man auch gerne wüsste, wer diesen Blog betreibt.) https://gegneranalyse.de/monitoring-03-uncut-news/
Zwei Herkünfte dieses Nationalismus: Die katholisierte westukrainische byzantinische Kirche (griechisch-katholisch, katholisch mit orthodoxem Ritus) und an der Sprache orientierte Bewegungen in der Mitte der Ukraine.
Das Verhältnis zum WWII als das markanteste Unterscheidungsmerkmal: Bandera und der ukrainische Nationalismus oder Lenin / Stalin und der Große Vaterländische Krieg.
Immerhin hatte Helmut Schmidt damals die Gefahren im Blick https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-krise-helmut-schmidt-wirft-eu-groessenwahn-vor-a-969773.html, dazu Günter Verheugen https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-krise-helmut-schmidt-von-ex-eu-kommissar-verheugen-kritisiert-a-970150.html – die Differenz zwischen beiden betrifft nicht den Inhalt der Politik, die beide negativ werten, sondern deren Akteure.
Eine Rückgliederung der Krim an die Ukraine dürfte kaum auf die Zustimmung der dortigen Bevölkerung stoßen. Schon das ukrainische Sprachgesetz wäre ein Hindernis.
Heute wird das gerne bestritten. Es sind genau jene Gebiete, die jetzt wieder in den Nachrichten auftauchen.
Eine Seltsamkeit dieser Ereignisse: Obwohl die Truppen der Aufständischen überlegen waren, stießen sie nicht weiter nach Westen vor, sondern machten am Stadtrand von Donezk halt. Vermutung: RU/Putin hat für diesen Stopp gesorgt, um die westlichen Staaten – Deutschland und Frankreich – für ein Abkommen zu gewinnen.
Russland begründete sein Verhalten jedenfalls nicht mit der „responsibility to protect“, einer völkerrechtlich zweifelhaften Argumentationsfigur, die der Westen mit seinem Eingriff in den libyschen Bürgerkrieg faktisch zerstört hat. R2P steht unter dem Verdacht, nur eine Scheinlegitimation für Eingriffe in andere Staaten zu sein, deren Regime dem Westen aus irgendeinem Grund nicht passt.
„Für den 11. Februar war im Unabhängigkeitspalast in Minsk, der Hauptstadt von Belarus, ein Gipfeltreffen zur Umsetzung des deutsch-französischen diplomatischen Plans geplant. An ihr nahmen der russische Präsident Wladimir Putin, der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident François Hollande, der DVR-Führer Alexander Sachartschenko und der LPR-Führer Igor Plotnitsky teil. Die Verhandlungen dauerten über Nacht sechzehn Stunden und wurden vom deutschen Außenminister als „sehr schwierig“ bezeichnet.“
Das Dokument wurde unterzeichnet von den Separatistenführern Alexander Sachartschenko und Igor Plotnitsky, der Schweizer Diplomatin und OSZE-Vertreterin Heidi Tagliavini, dem ehemaligen Präsidenten der Ukraine und ukrainischen Vertreter Leonid Kutschma, dem russischen Botschafter in der Ukraine und russischen Vertreter Michail Surabow“
https://en.wikipedia.org/wiki/Minsk_agreements#Minsk_II,_February_2015
Inzwischen wird aus der Ukraine behauptet, man habe das Abkommen zwar unterschrieben, hätte es aber gar nicht erfüllen, sondern Zeit für spätere Auseinandersetzungen gewinnen wollen.
Vor diesem Dilemma steht Russland wieder: Mit jedem Oblast, den es militärisch einnimmt und in irgendeiner Weise russisch macht, stärkt schwächt Russland den (irgendwie) russischen Teil der (Gesamt-)Ukraine und verringert damit seinen womöglich noch vorhandenen Einfluss in der Rest-Ukraine.
Günter Verheugen hat damals dazu geraten https://www.spiegel.de/politik/ausland/interview-mit-guenther-verheugen-putin-ist-nicht-stalin-a-1054950.html, ungehört, unbeachtet.
https://www.opendemocracy.net/en/odr/russia-ukraine-what-are-the-minsk-agreements/, https://www.politico.com/news/magazine/2022/02/02/putins-gambit-donbas-ukraine-west-doesnt-understand-00004616 – Interessant: Als Begründung für die Nichterfüllung von MinskII wird die mögliche Reaktion eines extremistischen Mobs angegeben. Was Putin gewollt hätte, um die Ukraine insgesamt zu destabilisieren.
Jedenfalls nicht von Seiten der ukrainischen „Eliten“. Bemerkenswert jedoch, dass Selenskyi für genau solch ein Versöhnungsprogramm 2019 zum Präsidenten gewählt wurde.
„Das Russische abwürgen … In der Ukraine ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Zuge der Konsolidierung der Nation die Staatssprache schützen und das Russische zurückdrängen soll. Überregionale Zeitungen und Zeitschriften müssen nun auf Ukrainisch erscheinen. Russische Ausgaben sind nicht verboten, doch parallel dazu muss eine ukrainische Version in gleicher Auflage gedruckt werden. Für die Verlage ist das freilich unrentabel. Die letzte landesweite russische Tageszeitung „Westi“ wurde kürzlich auf Ukrainisch umgestellt, viele Blätter erscheinen nur noch im Netz.“
„Zum Beispiel sollten die ersten Worte eines Kellners, die er von sich aus an einen Gast richtet, auf Ukrainisch sein. Der Gast kann die Sprache verwenden, die er möchte. ‚Das Gesetz besagt: Der Dienstleister, sein erster Satz, zu der Person, die seine Dienste in Anspruch nimmt, sollte auf Ukrainisch sein‘, sagte dem ukrainischen Sender ‚Hromadske‘ Iryna Podoljak von der Partei ‚Selbsthilfe‘, die das Gesetz mit initiiert hat. Podoljak wies darauf hin, sollten sowohl der Gast als auch der Kellner miteinander Russisch sprechen wollen, so sei dies natürlich erlaubt.
Welche Strafen sind vorgesehen? Bürger der Ukraine sind verpflichtet, über Grundkenntnisse der ukrainischen Sprache zu verfügen. Falls sie kein Ukrainisch beherrschen, drohen ihnen dafür aber keine Strafen. Eine andere Sache ist, dass ohne eine Ukrainisch-Prüfung und ohne Grundkenntnisse der ukrainischen Sprache kein Ausländer oder Staatenloser Bürger der Ukraine werden kann. Künftige Geldbußen.Für Verstöße in den Bereichen Bildung, Kultur, elektronische Informationssysteme und Postdienste wird eine Geldstrafe von 3400 bis 5100 Hrywnja erhoben. Für das Fehlen ukrainischer Inhalte im Rundfunk gibt es eine Geldstrafe von 8500 bis 10200 Hrywnja und in Printmedien von 6800 bis 8500 Hrywnja. Bei Verstößen gegen die Regeln zur Platzierung der ukrainischen Sprache in der Werbung wird eine Geldstrafe von 5100 bis 6800 Hrywnja erhoben. Wenn ein Beamter mit einem Bürger nicht Ukrainisch spricht, muss er eine Geldstrafe von bis zu 6800 Hrywnja entrichten.“
Оригінал статті – на сайті Українського кризового медіа-центру: https://uacrisis.org/de/71737-will-new-language-law-change
https://newsinfo.inquirer.net/1413849/new-law-stokes-ukraine-language-tensions
„Wir bekräftigen, jeder einzelne hat ohne Unterschied das Recht auf: Gedanken-, Gewissens- und Religions- oder Glaubensfreiheit, freie Meinungsäußerung, Vereinigung und friedliche Versammlung, Freizügigkeit; …“
„Wir bekräftigen, daß die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität nationaler Minderheiten Schutz genießen muß und daß Angehörige nationaler Minderheiten das Recht haben, diese Identität ohne jegliche Diskriminierung und in voller Gleichheit vor dem Gesetz frei zum Ausdruck zu bringen, zu wahren und weiterzuentwickeln.“ – Da sagt man, dass es die russische Sprache bei den Russischsprachigen in den Ukraine kein Moment von Identität sei, sondern ein letztlich auswechselbares Verständigungsmittel. Eine russische Identität einer Minderheit gibt es schon gar nicht. – Nur: Mit Rabulistik löst man keine politischen Probleme.
„Die Ukraine behält sich gemäß Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen das Recht vor, alle im Völkerrecht und in der Gesetzgebung der Ukraine vorgesehenen Mittel anzuwenden, um die Rechte und Freiheiten des Menschen und der Bürger, die Unabhängigkeit, die staatliche Souveränität und die territoriale Unversehrtheit zu schützen. – Das Ministerkabinett der Ukraine entwickelt und genehmigt einen Maßnahmenplan zur Umsetzung der Strategie für die Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, auf dessen Grundlage die zuständigen staatlichen Stellen Aktionspläne ausarbeiten und umsetzen, um die Entbesetzung des vorübergehend besetzten Gebiets sicherzustellen.“
https://www.washingtonpost.com/national-security/interactive/2022/ukraine-road-to-war/ Der Text will zeigen, wie uneinsichtig die Westeuropäer waren. Er zeigt jedoch, dass die USA nicht zu den geringsten diplomatischen Bewegungen bereit waren.
„Die Vereinigten Staaten und die Ukraine: Bekräftigen die Bedeutung unserer Beziehungen als Freunde und strategische Partner, die sowohl auf unseren gemeinsamen Werten als auch auf gemeinsamen Interessen beruhen, einschließlich des Engagements für ein geeintes, freies, demokratisches und friedliches Europa.Sie bekräftigen, dass die zwischen unseren beiden Nationen bestehende strategische Partnerschaft 10 für die Sicherheit der Ukraine und Europas insgesamt von entscheidender Bedeutung ist. … Sie betonen Sie das unerschütterliche Bekenntnis zur Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen, einschließlich der Krim und der Ausdehnung auf ihre Hoheitsgewässer angesichts der anhaltenden russischen Aggression, die den Frieden und die Stabilität in der Region bedroht und die globale regelbasierte Ordnung untergräbt.“
https://www.state.gov/u-s-ukraine-charter-on-strategic-partnership/
„Die Regierung schickte auch Waffen in die Ukraine. Im Dezember genehmigte Biden zusätzliche Waffen im Wert von 200 Millionen Dollar, die aus den US-Lagerbeständen stammen sollten – selbst als die Kiewer Regierung, viele im Kongress und einige innerhalb der Regierung selbst argumentierten, dass, wenn die Vereinigten Staaten wirklich glaubten, dass eine umfassende Invasion bevorstand, dies nicht genug sei.
Aber jeder Schritt in der Regierungskampagne basierte darauf, eine direkte Beteiligung der USA an einem militärischen Zusammenstoß zu vermeiden. Die übergeordnete Besorgnis des Weißen Hauses über die Provokation beeinflusste jede Entscheidung darüber, wie viel Hilfe und welche Art von Waffen sie den Ukrainern geben sollten, um sich selbst zu verteidigen. “
https://www.washingtonpost.com/national-security/interactive/2022/ukraine-road-to-war/
Ein Angrifskrieg der 200.000 gegen 800.000.
Diese Zusagen hat es gegeben, allerdings nicht in schriftlicher Form. Im Westen schließt man daraus auf ihre Belanglosigkeit und Ungültigkeit, für Russland ist dagegen genau diese Haltung ein Beleg der Unzuverlässigkeit des Westens.
„8. Jeder Teilnehmerstaat hat dasselbe Recht auf Sicherheit. Wir bekräftigen das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern. Jeder Staat hat auch das Recht auf Neutralität. Jeder Teilnehmerstaat wird diesbezüglich die Rechte aller anderen achten. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen. Innerhalb der OSZE kommt keinem Staat, keiner Staatengruppe oder Organisation mehr Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität im OSZEGebiet zu als anderen, noch kann einer/eine von ihnen irgendeinen Teil des OSZE-Gebiets als seinen/ihren Einflussbereich betrachten.
9 Wir werden unsere Beziehungen im Einklang mit dem Konzept der gemeinsamen und umfassenden Sicherheit gestalten, im Sinne von gleichberechtigter Partnerschaft, Solidarität und Transparenz. Die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats ist untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden. Wir werden uns mit der menschlichen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Dimension der Sicherheit als einem unteilbaren Ganzen befassen.“
https://www.osce.org/files/f/documents/b/f/125809.pdf, https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Sicherheitscharta
„Wir brauchen im Grundsatz einen vierfachen politischen Ansatz:
- Erstens: Eine hochrangige Konferenz, die auf der Grundlage der fortbestehenden Gültigkeit der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 und der Budapester Vereinbarung von 1994, aber ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und auf verschiedenen Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur berät.
- Zweitens: Solange diese Konferenz tagt – und dafür wäre realistischerweise ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren anzusetzen –,sollte auf jede militärische Eskalation auf beiden Seiten verzichtet werden. …
- Drittens: Der NATO-Russland-Dialog sollte auf politischer und militärischer Ebene ohne Konditionen wiederbelebt werden. Dazu zählt auch ein Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle. …
- Viertens: Es sollte trotz der derzeitigen Lage über weitergehende ökonomische Kooperationsangebote nachgedacht werden. …“
Die Unterzeichner Botschafter a.D. Ulrich Brandenburg, Deutscher Botschafter bei der NATO (2007-2010) und in Russland
(2010-2014); Prof. Dr. Michael Brzoska, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik
(2006-2016); Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser, Abteilungsleiter Militärpolitik bei der deutschen NATOVertretung in Brüssel (2004-2008); Prof. Dr. Jörn Happel, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr
Hamburg; Botschafter a.D. Hans-Dieter Heumann, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik
(2011-2015); Botschafter a.D. Hellmut Hoffmann, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei
der Genfer Abrüstungskonferenz (2009-2013); Botschafter a.D. Heiner Horsten, Ständiger Vertreter der
Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE in Wien (2008-2012); Brigadegeneral a.D. Hans Hübner,
Kommandeur des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (1999-2003); Prof. Dr. HeinzGerhard Justenhoven, Direktor des Instituts für Theologie und Frieden; Stephan Klaus, Sprecher der Jungen
GSP; Generalleutnant a.D. Dr. Ulf von Krause, Befehlshaber des Streitkräfteunterstützungskommandos der
Bundeswehr (2001-2005); Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik
Deutschland bei der OSZE in Wien (2012-2015); Prof. Dr. Gerhard Mangott, Universität Innsbruck; General
a.D. Klaus Naumann, Generalinspekteur der Bundeswehr (1991-1996) und Vorsitzender des NATOMilitärausschusses (1996-1999); Prof. em. Dr. August Pradetto, Helmut-Schmidt-Universität der
Bundeswehr Hamburg; Roger Näbig, Blog Konflikte und Sicherheit; Prof. Dr. Götz Neuneck,
Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik
(2009-2019); Jessica Nies, Sprecherin der Jungen GSP; Oberst a.D. Harry Preetz, Landesvorsitzender Bereich
I der Gesellschaft für Sicherheitspolitik; Oberst a.D. Wolfgang Richter, Stiftung Wissenschaft und Politik,
Leitender Militärberater bei der deutschen OSZE-Vertretung (2005-2009); Oberst a.D. Richard Rohde,
Sektionsleiter Bonn der Gesellschaft für Sicherheitspolitik; Botschafter a.D. Dr. Johannes Seidt,
Chefinspekteur des Auswärtigen Amts 2014 bis 2017; Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb,
Verteidigungsattaché an der deutschen Botschaft Moskau (2011-2018); Prof. Dr. Michael Staack, HelmutSchmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg; Brigadegeneral a.D. Armin Staigis, Vizepräsident der
Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2013-1015); Prof. Dr. Johannes Varwick, Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg; Dr. Wolfgang Zellner, Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2009-2019).
https://www.johannes-varwick.de/rauf/AUFRUF_Raus-aus-der-Eskalationsspirale_05122021-3.pdf
Eine sehr lesenswerte Einschätzung des Kriegs, seines bisherigen Verlaufs und der weiteren Möglichkeiten: https://www.zebis.eu/veroeffentlichungen/positionen/gedanken-zum-ukrainekonflikt-von-oberst-ad-wolfgang-richter/.
Von Juristen habe ich mal gelesen, dass diese Formulierung auch Gründe im russischen Militärrecht haben kann.
„Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am Interner Link: 8. Mai 1945 und der Berliner Erklärung vom 5. Juni, die die Einrichtung des Alliierten Kontrollrates und die Aufteilung in Besatzungszonen festlegte, begann am 17. Juli schließlich die Potsdamer Konferenz. In Potsdam bekräftigten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die in Jalta gefassten Beschlüsse und konkretisierten die politischen Grundsätze für ihren Interner Link: Umgang mit dem besetzten Deutschland. Dazu gehörten die sogenannten „Vier Ds“: Denazifierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. In der Mitteilung über die Potsdamer Konferenz vom 2. August heißt es:
‚Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wiederaufzubauen.’“
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/312929/die-potsdamer-konferenz/
Und was man im TV fand. – Kurze Zeit später agierte die ukrainische Armee im großen Stil professionell. Desinformation? Oder nur Unübersichtlichkeit?
Die Möglichkeiten 1 und 2 sind momentan die wahrscheinlichsten, https://konflikteundsicherheit.wordpress.com/2022/08/14/russischer-verteidigungsexperte-ruslan-puchow-im-interview-zum-ukraine-krieg-ungleicher-kampf-der-gladiatoren/, http://www.prisp.ru/analitics/11005-skorobogatiy-ukraina-gladiatorskie-boi-0408 .
Das war der Einstieg der USA in Vietnam.
Momentan noch muss das vom Westen in die Ukraine geschickte moderne Militärgerät aus dem ukrainischen Osten zur Überholung nach Polen geschickt werden, viel zu lang und zu umständlich.
Die von Russland in der Zeit vom 23.-27.09.2022 durchgeführten „Referenden“ über einen Beitritt der Bezirke Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischja zu Russland https://www.tagesschau.de/ausland/europa/referenden-ukraine-101.html und den danach erfolgten Anschluss dieser Gebiete an Russland lassen vermuten, dass das weitreichende Kriegsziel einer Neutralisierung der gesamten Ukraine aufgegeben worden ist. – Es gibt in der russischen Öffentlichkeit auch die Vorstellung, der Krieg können beendet werden, wenn Odessa und die gesamte Schwarzmeerküste bis Transnistrien zu Russland geschlagen worden sind, also das sogenannte „Neurussland“ https://de.wikipedia.org/wiki/Neurussland, https://friedenslage.blogspot.com/2022/09/friedenslage-am-30092022-123741.html. Die Ukraine wäre danach wirtschaftlich kaum mehr lebensfähig, also als Nato-Sprungbrett gen Russland bestens geeignet. – Solches russisches Vorgehen könnte also kontraproduktiv sein.
Diese Unklarheit unterscheidet, nebenher gesagt, die Außenpolitik Russlands von der der Sowjetunion. Die UdSSR war Staat der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der führenden Partei der kommunistischen Weltbewegung. Sie formulierte ihre außenpolitischen Ziele so, dass die kommunistischen Parteien der anderen Länder, insbesondere jene in den kapitalistischen Ländern, sie nicht nur als Ausweis der Friedenspolitik der Sowjetunion propagieren konnten, sondern zugleich als eine im Interesse der ganzen Menschheit liegende Politik zeigen konnten. Davon kann heute keine Rede mehr sein.Im Westen sprach man nach dem Februar 22 von einem russischen Kommunikationsdesaster. Aber vielleicht hatte man in Moskau auch nur keine Lust, sich gegenüber der westlichen Öffentlichkeit anzustrengen. Das gegenwärtige Russland erklärt seine Politik der Welt und der Menschheit kaum noch, was die Öffentlichkeiten der westlichen Länder denken, scheint ihm völlig gleichgültig zu sein. Man kann sich dort eh auf nichts und niemanden verlassen.
„Wir fordern das Kiewer Regime auf, das Feuer, alle Feindseligkeiten, den Krieg, den es 2014 entfesselt hat, sofort einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir sind dazu bereit, das wurde schon mehr als einmal gesagt. Aber die Wahl der Menschen in Donezk, Lugansk, Saporoschje und Cherson wird nicht diskutiert werden, sie wurde getroffen, Russland wird sie nicht verraten. (Beifall) Und die heutigen Kiewer Behörden sollten diese freie Äußerung des Willens der Menschen mit Respekt behandeln und sonst nichts. Das ist der einzige Weg zum Frieden.“ Präsident Putin Rede zur Annahme der Beitrittsgesuche.
Baerbock zur Ukraine – An Kiews Seite – „so lange es nötig ist“ https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-baerbock-akw-101.html
An solchen Konzepten wird gearbeitet https://www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html
https://ru.wikipedia.org/wiki/ Stichwort:
Переговоры_по_урегулированию_вторжения_России_на_Украину#Требования_России
, https://zn.ua/UKRAINE/znua-stali-izvestny-shest-ultimativnykh-trebovanij-rossii-k-ukraine.html
https://www.ft.com/content/7b341e46-d375-4817-be67-802b7fa77ef1; was möglich war und was nicht https://www.dw.com/de/kriegsende-oder-nebelkerze-wor%C3%BCber-kiew-und-moskau-verhandeln/a-61178805, https://ru.wikipedia.org/wiki/ Stichwort:
Переговоры_по_урегулированию_вторжения_России_на_Украину#
Заявления_и_действия_сторон_после_раунда
Ob – und wenn ja: wie – diese Konzeption mit dem Grundgesetz vereinbar ist, von Deutschland also überhaupt unterstützt werden kann, wird nicht noch nicht mal geprüft. Art 1 GG will gerade verhindern, dass Menschen Teil/Instrument/Mittel staatlicher Gewaltpolitik werden. Ferner die Präambel.
Es wird ein Ausweg gesucht, den man verkaufen kann: „Einerseits geht es darum, so viel wie möglich an ukrainischer Souveränität wiederherzustellen – der Ukrainer wegen, aber auch, damit Putin (und potenziell China) verstehen, dass sich territoriale Aggression nicht lohnt.
Andererseits gilt es, eine Situation zu vermeiden, in der Putin glaubt, es gebe keine andere Möglichkeit als eine Totaleskalation durch Einsatz einer Atomwaffe.
Der zweite Schritt ist ein unmissverständliches Signal an die Ukraine, dass der Westen die Wiederherstellung des territorialen Status vor Beginn der russischen Invasion am 24. Februar dieses Jahres unterstützt – aber nicht darüber hinaus.
Zu Anfang des Konflikts hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dies auch akzeptiert, aber durch die neuesten Landgewinne sind er und seine Unterstützer ambitionierter geworden. Das ist verständlich und aus Sicht der Ukraine auch legitim. Aber es wäre für den Rest der Welt unter aktuellen Bedingungen brandgefährlich.“
https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_friedensdenkschrift.pdf S. 68ff. Kürzere Darstellung bei https://relilex.de/gerechter-krieg/
„Moral kann keine Kompromisse machen, ohne sich aufzugeben. Das reale Leben verlangt aber auf Schritt und Tritt Kompromisse von uns, und in unserem Konzept von Demokratie ist der Kompromiss sogar essentiell.
Max Weber hat versucht das Dilemma so aufzulösen, dass er zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unterschied. Wie sinnvoll das ist, sei dahingestellt. Aber für den Krieg in der Ukraine ist den Anhängern militärischer Lösungen weder das eine noch das andere zuzubilligen. Denn ihr Kriegsziel – sei es ein militärischer Sieg der Ukraine, oder auch nur die militärische Durchsetzung einer starken Verhandlungsposition – ist weder moralisch noch verantwortungsvoll.
Der Tod der anderen
Denn moralisch völlig inakzeptabel ist es, auf unkalkulierbare Zeit eine unkalkulierbare Zahl von Menschen in den Tod zu schicken. Baerbock & Co. können sich nicht kaltschnäuzig um die Frage drücken, ob sie zehntausend, fünfzigtausend, hunderttausend oder mehr tote Soldaten und Zivilisten akzeptieren, um ihr Kriegsziel zu erreichen.“
Peter Wahl: ZWISCHEN MORAL UND REALISMUS – Ukraine: Schießen oder verhandeln? – https://makroskop.eu/31-2022/ukraine-schiessen-oder-verhandeln/
„(115) Die Absicht einer bewaffneten Intervention muss eindeutig auf das Ziel bezogen sein, die Opfer vor lebensbedrohlichem schwerem Unrecht zu schützen, die Grundlagen staatlicher Existenz zu sichern und die Bedingungen politischer Selbstbestimmung der einheimischen Bevölkerung wiederherzustellen. Hinsichtlich der Frage, wie diese politische Selbstbestimmung wahrgenommen und ausgestaltet wird, muss die Intervention unparteilich bleiben.“ Friedensdenkschrift des Rates der EKD 2007, https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_friedensdenkschrift.pdf S. 77, der russische Angriff vom 24.02.2022 hält diesen Kriterien nicht stand.
Zur miserablen Qualität der „Diskussionen“ in Deutschland s. https://www.berliner-zeitung.de/open-source/nach-amnesty-bericht-wir-muessen-ueber-ukraine-krieg-ohne-schaum-vor-dem-mund-sprechen-li.255195
Ab und zu werden Sahra Wagenknecht oder Johannes Varwick geladen. Deren Sichtweisen schafft es aber nie in das Framing der politischen Nachrichten, bleiben also exotisch. https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ukraine-krieg-warum-ich-keine-angst-habe-beifall-von-der-falschen-seite-zu-bekommen-li.254501
Die „Offenen Briefe“ an den Bundeskanzler https://www.emma.de/artikel/offener-brief-bundeskanzler-scholz-339463 und die Antwort https://www.zeit.de/2022/19/waffenlieferung-ukraine-offener-brief-olaf-scholz zeigen schon dieselben Strukturen wie die folgenden Auseinandersetzungen: Die einen argumentieren politisch-ethisch, die anderen politisch-strategisch. So redet man entschieden aneinander vorbei. Aber manche ahnen das Problem schon mal https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/rhetorik-des-offenen-briefes-verhandlungen-statt-waffenlieferungen-18036217.html.
Unterzeichnet von Frauen und Männern, die in ihrem jeweiligen Bereich schon eine gewisse Bedeutung haben, als überregional in der Öffentlichkeit bekannte Intellektuelle wird man sie aber wohl nicht ansehen können. Jakob Augstein (Publizist), Richard A. Falk (Professor für Völkerrecht), Svenja Flaßpöhler (Philosophin), Thomas Glauben (Professor für Agrarökonomie), Josef Haslinger (Schriftsteller), Elisa Hoven (Professorin für Strafrecht), Alexander Kluge (Filmemacher und Autor), Christoph Menke (Professor für Philosophie), Wolfgang Merkel (Professor für Politikwissenschaft), Julian Nida-Rümelin (Philosoph), Robert Pfaller (Philosoph), Richard D. Precht (Philosoph), Jeffrey Sachs (Professor für Ökonomie), Michael von der Schulenburg (ehemaliger UN-Diplomat), Edgar Selge (Schauspieler), Ilija Trojanow (Schriftsteller), Erich Vad (General a. D., ehemaliger Militärberater von Angela Merkel), Johannes Varwick (Professor für internationale Politik), Harald Welzer (Sozialpsychologe), Ranga Yogeshwar (Wissenschaftsjournalist), Juli Zeh (Schriftstellerin)
https://www.zeit.de/2022/27/ukraine-krieg-frieden-waffenstillstand
Manche Kritiker scheinen den Text gar nicht gelesen zu haben, zumindest nicht sorgfältig. https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/96-osteuropa-experten-weltweit-fordern-schwere-waffen-jetzt_id_119428660.html. Das ist aber durchaus üblich https://taz.de/Haltungen-zur-Ukraine/!5870465/
Wolfgang Merkel: Suche nach Lösungen im Ukraine-Krieg – Je früher Verhandlungen beginnen, desto mehr Leben werden gerettet, Tagesspiegel 04.07.2022, https://plus.tagesspiegel.de/politik/suche-nach-losungen-im-ukraine-krieg-je-fruher-verhandlungen-beginnen-umso-mehr-leben-werden-gerettet-527265.html
https://www.heise.de/tp/features/Die-Trommelschlaege-des-Kriegs-muessen-Worten-des-Friedens-weichen-7155688.html?seite=all, https://www.karenina.de/leben/zivilgesellschaft/keine-angst-vor-friedensverhandlungen/. Im Anhang dieser Erklärung beschäftigen sich die Autoren mit möglichen Gegeneinwänden.
„Liana Fix war früher Resident Fellow bei GMF.“ https://www.gmfus.org/find-experts/liana-fix, eine US-Organisation, die Einfluss auf den deutschen Politikbetrieb nimmt.
Auf Twitter selbst erlebt.
Der Gedanke scheint mehr eine dumpfe Wiederholung der alten Flexible-Response-Dogmatik zu sein.
Eine militärferne, militärkritische Militärwissenschaft ist dringend erforderlich.
Krippendorf, Staat und Krieg, S. 192
https://friedenslage.blogspot.com/2022/02/friedenslage-am-01022022-155405.html, aus „Widerstand und Ergebung“
„Michael Anthony McFaul (* 1. Oktober 1963 in Glasgow, Montana) ist ein US-amerikanischer Professor für Politikwissenschaften und Diplomat. Er war vom 10. Januar 2012 bis zum Februar 2014 US-Botschafter der Vereinigten Staaten in Russland. McFaul ist Absolvent der Stanford University. … Für Präsident Obama war McFaul, der ebenfalls Mitglied der Demokratischen Partei ist, gleichsam der Architekt seiner Russland-Politik und der Präsident beschloss deshalb im September 2011 ihn … zum amerikanischen Botschafter in Russland zu ernennen.[2] Am 10. Januar 2012 trat McFaul den Posten als Botschafter in Moskau an, kehrte je- doch schon zwei Jahre später, im Februar 2014, aus familiären Gründen nach Kalifornien in die USA zurück, wo er seitdem wieder als Professor für Politikwissenschaften an die Universität Stanford arbeitet. … Michael McFaul gilt als einer der führenden Experten auf dem Gebiet des postkommunistischen Russlands, weshalb auch schon der vorhergehende Präsident George W. Bush dessen Beratung hinsichtlich Russland und Wladimir Putin in Anspruch genommen hatte. Ebenfalls hatte schon Mitte der 1990er Jahre der damalige russische Präsident Boris Jelzin McFauls Rat gesucht.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_McFaul
Etwa https://dgap.org/de/forschung/publikationen/smarte-souveraenitaet#Sicherheits-%20und%20Verteidigungspolitik, nach dem Februar 2022 https://dgap.org/de/forschung/publikationen/zeitenwende-fuer-europas-sicherheitsordnung + https://dgap.org/sites/default/files/article_pdfs/DGAP%20Policy%20Brief%20Nr.%209%2C%20April%202022%2C%208%20S..pdf
„Zuvor hatte Baerbock beim informellen EU-Außenministertreffen für eine strategische Neuausrichtung der Russlandpolitik der EU geworben. Der Vorschlag der Außenministerin umfasste vier Punkte: die Stärkung der eigenen Wehrhaftigkeit, die Unterstützung von russischen Regimegegnern, die Unterstützung der Ukraine sowie die Zusammenarbeit mit weltweiten Partnern bei der Verteidigung des internationalen Rechts.
Auch in dem Konzept, das die Mitgliedstaaten als Diskussionsgrundlage erhalten haben, wird eingeräumt, dass die Unterstützung der Ukraine einen Preis hat, der voraussichtlich auch noch einmal steigen werde. Strategische Kommunikationsbemühungen sollten deswegen darauf abzielen zu zeigen, wie die Unterstützung für die Ukraine langfristig die Sicherheit Europas erhöhe und warum Sanktionen notwendig und effizient seien.“
Bei einer Niederlage Russlands würden Folge- und Fortsetzungskriege entfacht werden, https://www.csce.gov/international-impact/events/decolonizing-russia, https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2022/05/russia-putin-colonization-ukraine-chechnya/639428/.
S. dazu auch die Forderungen der UNO-Generalversammlung vom 02.03.2022, https://www.un.org/depts/german/gv-notsondert/a-es11-1.pdf
Zum miserablen Zustand der Charta von Paris gehört der Niedergang der OSZE, https://www.nachdenkseiten.de/?p=88064.
So ähnlich der Bw-General aD Schwab: „Wie soll der Zustand nach einem Krieg aussehen? Dies gilt sowohl für einen Aggressor als auch für denjenigen, der sein Land legitim verteidigt. Einen stabileren und besseren Frieden kann es meiner Meinung nach nur im Kontext der den Krieg überwölbenden Fragen geben.
Wir haben hier ja drei Ebenen zu betrachten. Erstens geht es um einen USA-Russland Konflikt um strategische Stabilität. Zweitens um einen Nato-Russland Konflikt um Sicherheitsarchitektur in Europa. Und drittens um einen Russland-Ukraine-Krieg mit nicht ganz klaren russischen Zielen.“
Es fehlt die innerukrainische Dimension, sie ist in den letzten Monaten aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. https://www.heise.de/tp/features/Russland-verfuegt-immer-noch-ueber-die-Eskalationsdominanz-7194125.html?seite=all
Genau diesen Anspruch erfüllt dieser Text (noch?) nicht: Wenn es richtig ist, dass der gegenwärtige Krieg eine Folge der US-Politik in Europa ist (Guérot/Ritz S. 39f, ebenso Dohnanyi S. 66ff)), dann ist es zu wenig, die Rückkehr zur Charta von Paris zu verlagen. Es muss vielmehr auch über das Verhältnis der USA zu einem Europa des Friedens nachgedacht werden.
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/oskar-lafontaine-deutschland-handelt-im-ukraine-krieg-als-vasall-der-usa-li.261471, https://www.nachdenkseiten.de/?p=88304, https://www.blog-der-republik.de/klaus-von-dohnanyi-nationale-interessen-orientierung-fuer-deutsche-und-europaeische-politik-in-zeiten-globaler-umbrueche-eine-kommentierte-besprechung/, https://www.nzz.ch/international/mehr-entspannung-wagen-interview-mit-klaus-von-dohnanyi-ld.1675261
„Im Zentrum der russischen Forderung steht die Charta für die Europäische Sicherheit, die von der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) 1999 in Istanbul verabschiedet und 2010 während eines Gipfels in Astana erweitert wurde. In dieser Charta findet sich der Grundsatz, dass jeder Staat auf der Suche nach Sicherheit frei ein Bündnis wählen dürfe. Gleichzeitig wird aber auch festgehalten, dass kein Staat seine Sicherheit auf Kosten anderer Staaten vergrößern dürfe. Diesen Widerspruch nutzt Russland für seine Argumentation und beklagt, dass der Westen stets nur das Recht auf Bündniswahl für sich reklamiere, den zweiten Teil der Vereinbarung aber nicht respektiere. „So funktioniert es nicht“, schreibt Lawrow, „die Bedeutung der Vereinbarung über die Unteilbarkeit von Sicherheit heißt doch, dass es entweder Sicherheit für alle oder keine Sicherheit für niemanden gibt.“
Der Widerspruch im Vertragstext ist bekannt und war bisher nur unter Experten thematisiert worden In der OSZE wurde darüber in einem sogenannten strukturierten Dialog beraten. Auch der Nato-Russland-Rat beschäftigte sich damit. Andere Verträge zur europäischen Sicherheit wie die Charta von Paris oder die Nato-Russland-Grundakte verweisen ausschließlich auf die Souveränität der Staaten und die Unverletzbarkeit von Grenzen. Auch die Anwendung der Verträge in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt durch Russland selbst, trägt zum Interpretationsspielraum bei.
Lawrow hatte die neue Argumentationslinie Moskaus bereits bei den letzten Begegnungen mit US-Außenminister Tony Blinken oder der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock aufblitzen lassen. Der Brief macht nun deutlich, dass Russland dieses Thema ins Zentrum der Verhandlungen mit den USA und den Nato-Staaten schieben könnte.“
https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-ukraine-osze-lawrow-diplomatie-1.5519884
Ich verwende dazu Texte aus RT und Reden des Präsidenten Putin. Die innerrussische Bedeutung der RT-Texte, verfasst von Leuten, die als wichtibe Politologen vorgestellt werden, kann ich natürlich nicht einschätzen.
Art 3 der UN-Charta kennt „Staaten“ als Mitglieder, nicht Völker. Wie Staaten und Völker sich zueinander verhalten, müssen die Staaten unter sich ausmachen.
https://test.rtde.me/meinung/150133-russischer-politologe-zum-ukraine-konflikt/ „Geworg Mirsajan ist ein Dozent des Lehrstuhls für Politologie der Finanzuniversität bei der Regierung der Russischen Föderation. Als Kolumnist und Experte für internationale Beziehungen tritt er regelmäßig in Polittalkshows im russischen Fernsehen statt.“
Das ist etwas anderes als „russischer Imperialismus“, allerdings auch nicht widerspruchsfrei: Sind nur die ethnischen Russen gemeint? Was gehen diese Leute die vielen „russländischen“ (ungleich: russischen) Völkerschaften Russlands an?
Anders als https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/krieg-in-der-ukraine-putins-sturzflug-bei-den-vereinten-nationen-18387837.html. Zählt man die Staaten, die dem Westen nicht folgen, nach ihrer Bevökerungszahl, und nimmmt man jene hinzu, die zwar gegen Russland stimmen, aber sich nicht an den Sanktionen beteiligen, hinzu, dann ist eher der Westen weltweit isoliert. Es hängt davon ab, was man zählt.
Der Kampf gegen russische Desinformation ist wohl falschen Erinnerungen an den Kalten Krieg Nr. 1 geschuldet. Bekämpft werden ja nicht „falsche Fakten“, sondern unerwünschte Deutungen, demonstriert an Texten, die für ein russischsprachiges Publikum bestimmt sind.
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/warum-der-ukraine-krieg-eingefroren-werden-muss, https://www.jungewelt.de/artikel/435360.kampf-um-den-donbass-der-westen-m%C3%BCsste-einen-status-quo-akzeptieren-der-ihm-nicht-gef%C3%A4llt.html, dagegen https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deitelhoff-waffenstillstand-ukraine-krieg-russland-100.html
Allerdings gibt es Notwendigkeiten der Anpassung, insbesondere Punkt 4 des Vorschlags für ein Friedensabkommen.