Der Streit um den Krieg bekommt inzwischen irrwitzige Züge. Die
Ukraine will die russische Schwarzmeerflotte besiegen, obwohl sie
selbst kaum noch Flotte hat, denn die ist 2014 zum guten Teil
übergelaufen, und sie will den Süden der Ukraine bist zur Krim
zurückholen. Bei uns wird getrommelt, die Ukraine habe alle Chancen zu
siegen, wenn sie nur genügend große Kanonen und andere Wunderwaffen
bekommt. – Gleichzeitig erweitert/konkretisiert Russland seine
Kriegsziele, er will die jetzigen von Russland eroberten Gebiete und
noch einiges mehr.
Der Irrwitz der ukrainischen Kriegsziele lässt vermuten, dass es um die
ukrainischen Aussichten schlecht steht. Lawrows Kriegsziele werden in
russischen Massenmedien oft noch radikaler formuliert: Russland müsse
bis in die Westukraine vorstoßen, um dort den Banderismus vollständig zu
besiegen.
Lawrow sieht keine Aussichten auf Verhandlungen. Schon 2021 hat er immer
wieder deutlich gemacht, dass er westlichen Parteien grundsätzlich nicht
als seriöse Gesprächspartner ansieht, zu oft sei man hintergangen
worden. Momentan könnte er der Auffassung sein, Russland sei auf dem
Vormarsch und brauche deshalb keine Verhandlungen mit der anderen
Seite. Vielleicht meint er, die andere Seite werde eines Tages in Sachen
Krieg und Frieden – bitte überschreitet nicht den Dnepr auf ganze Linie!
– ebenso angebettelt kommen, wie Deutschland im Moment Russland um Gas
anbettelt. – Mag ja sein.
Aber Russland könnte damit überfordert sein, die dann großen und weiten
eroberten Gebiete zu beherrschen. Die Vorstellung, die russische Armee
könne in Lemberg/Lwow/Liw (welche Namen gibt es noch?) durch ihre bloße
Anwesenheit den westukrainischen Nationalismus beseitigen, dürfte
unsinnig sein. Das haben in 45 Jahren noch nicht mal die Rote Armee und
die KPdSU geschafft, denn das hat tief gehende kulturelle Wurzeln.
Bei einer Veranstaltung der SPD Schleswig-Holstein 2014 sagte Egon Bahr
sinngemäß, der Staat Ukraine gehöre zu zwei Kulturkreisen, dem
katholischen und dem orthodoxen, da müsse man sehr vorsichtig
sein. Einer der Ursprünge des (west-)ukrainischen Nationalismus liegt in
der griechisch-katholischen Kirche dort. Zwar am orthodoxen Ritus
festhaltend, konvertierte dieser Teil der Orthodoxie der damaligen
Ukraine zum Katholizismus, die polnische Herrschaft verlangte es
so. Später gehörte dieser Teil Ex-Polens zu kuk-Österreich. Diese neue
Herrschaft förderte diese Art von Nationalismus gegen Russland.
So unbedeutend das jenen sein mag, die sich selbst als unreligiös
verstehen: Durch die Ukraine, jedenfalls den Westen, zieht sich nun
die Grenze zwischen West und Ost, zwischen Rom und Byzanz, zwischen
katholisch/lateinisch und orthodox. Diese Grenze war oft
kriegerisch. In Osteuropa stießen das polnisch-litauische
Jagiellonen-Reich und der orthodoxe russische Zar aufeinander[1]. Die
Tiefe dieses Gegensatz zwischen diesen beiden europäischen Kulturen
kennt man im Westen aus Jugoslawien während des zweiten Weltkriegs und
aus der Zeit nach Tito.
In Deutschland gab es einen vergleichbaren Gegensatz während des
30jährigen Kriegs. Der Westfälische Friede war Teil eines
Lernprozesses: Religiöse Gegensätze lohnen keinen Krieg. In anderen
Ländern fehlt diese Erfahrung bis heute. In der UdSSR und in Titos
Jugoslawien wurden diese Gegensätze vom Staat unterdrückt. Als diese
Staaten verschwanden, traten sie wieder hervor, nun gab es zwar
Freiheit, aber keine Erfahrung im Umgang damit. Die alten Dämonen
kehrten zurück.
Die Charta von Paris (1990) ahnte diese Gefahren, sie verpflichtete
deshalb die europäischen Staaten auf die Achtung und Förderung ihrer
Minderheiten. – Aber was kann so ein Text, der nur ein (gemeinsames)
Programm ist, unterschrieben in zwar hoffnungsvollen, aber schwachen
Stunden, gegen 100, gar 1000jährige Gegensätze in der europäischen
Kultur ausrichten, wenn die Notwendigkeit des Lebens mit den
Unterschieden nicht gelernt ist?
Die Ukraine hatte als friedlicher Gesamtstaat nur eine Chance, so
lange die Gegensätze/Spannungen zwischen dem Westen und dem Osten
ausbalanciert wurden. Der Regierungswechsel 2014 an der Verfassung
vorbei ändert dies schlagartig. Wesentliche Kräfte in der neuen
Regierung wollten die Ukraine zu einem Großgalizien umformen[2]. Das
war für viele, vielleicht die meisten politischen Kräfte des
russisch-sprachigen/russisch-orthodoxen Ostens unannehmbar. Sie
stellten die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit dieser
Regierung[3]. Damit begannen die Auseinandersetzungen, die zu den
„Volksrepubliken“ und dem Krieg führten.
,—-
| Es wird keinen Frieden in der Ukraine geben, solange ihre Innenpolitik
| nicht mit ihrer kulturellen Realität in Einklang gebracht wird.
`—-
https://nationalinterest.org/feature/how-break-cultural-gridlock-ukraine-189505
In den letzten Jahren hieß das, dass die Verdrängung des Russischen in
der Ukraine Spannungen erzeugt, einer Demokratie nicht angemessen ist
Grundrechte, zb dass der Pressefreiheit, missachtet. Aber dasselbe
gilt natürlich auch anders herum: Es ist nicht nur unmöglich, die
vielhundertjährige westliche/katholische Vergangenheit des
ukrainischen Westens zu ignorieren, es ist auch falsch, es tun zu
wollen. Wenn, wie es manchmal zu sein scheint, unter „Denazifizierung“
der Ukraine nicht nur zu verstehen ist, dass die russischen Teile der
Ukraine nicht mehr (west-)ukrainisiert werden, sondern die Westukraine
russifiziert werden soll[4], dann wird die eine Katastrophe durch eine
andere ersetzt. Die Besetzten werden sich wehren und wieder als
Partisanen in den Wald gehen. Selbst wenn sie dort militärisch besiegt
werden, die Rote Armee hat dafür viele Jahre gebraucht, wird ihr Erbe
über Jahrzehnte weiter leben. Es wird in 30 Jahren neue Andrej Melnyks
geben.
Frieden wollen sie ja alle, die Ukraine und der Westen auf der einen
Seite, Russland auf der anderen Seite und die Friedensbewegten und
Verhandlungsforderer diesen Seiten gegenüber, sagen sie
jedenfalls. Dabei lassen sich Regelungen eines dauerhaften Friedens
durchaus beschreiben[5]: Von äußerster Bedeutung wird es sein, dass
der Staat sich Nation von (freiwilligen) Staatsbürgern begreifen
kann. Alle ethnizistischen Zwänge der inneren Ordnung – ob
„ukrainisch“ oder „russisch“ – müssen fallen. Vielmehr wird eine
bewusste Entscheidung zugunsten einer Ordnung nötig sein, die sich
(grob) an der Sprachenpolitik der Schweiz[6] und den dazu notwendigen
föderalen Strukturen orientiert.[7] Solche Lernvorgänge laufen langsam
ab, aber dazu muss man sie erstmal wollen.
https://www.n-tv.de/politik/Ukraine-will-russische-Schwarzmeerflotte-versenken-article23473748.html
https://www.zeit.de/politik/2022-07/russland-ukraine-krieg-waffenstillstand-wladimir-putin-kriegsziel/komplettansicht
https://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Militaerexperte-sieht-Chance-auf-Sieg-der-Ukraine-article23445193.html
https://taz.de/Russlands-Angriffskrieg/!5869072/
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lawrow-militaereinsatz-ukraine-krieg-russland-100.html
Lesenswert:
https://www.freitag.de/autoren/jaugstein/deutschland-soll-die-ukraine-unterstuetzen-komme-was-wolle-ist-das-sinnvoll
https://www.freitag.de/autoren/wolfgangmichal/realismus-gegen-idealismus-zwei-denkschulen-und-die-verhandlungsfrage
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/was-kann-wladimir-putin-an-den-verhandlungstisch-bringen
(aber nur per rss)
Fußnote(n)
[1] Ein Beispiel https://de.wikipedia.org/wiki/Polnisch-Russischer_Krieg_1609%E2%80%931618
[2] https://nationalinterest.org/feature/how-break-cultural-gridlock-ukraine-189505
[3] https://www.mediaport.ua/sezd-deputatov-vseh-urovney-v-harkove-tekstovaya-translyaciya
[4] zB https://ria.ru/20220403/ukraina-1781469605.html
[5] zB https://www.thenation.com/article/world/peace-settlement-ukraine/
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Sprachen_in_der_Schweiz#Gesetzliche_Grundlagen
[7] Auch in der Schweiz hat ein aus politisch-religiös-kulturellen
Gründen geführter Bürgerkrieg einen grundlegenden politischen
Lernprozess eingeleitet, durchaus nicht von heute auf morgen.