Manuskript meines Beitrags auf der Veranstaltung:
Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde aus der
Friedensbewegung!
Ich bin gefragt worden, hier auf dieser Kundgebung der Volksinitiative
gegen Rüstungsexporte einen Beitrag über die Militarisierung der Ostsee
zu halten. Auf den ersten Blick hat das nichts miteinander zu tun. Ich
nehme es Ausdruck eines Bedürfnisses, diese Volksinitiative in einen
größeren Rahmen zu stellen. Rüstungsexporte dienen ja nicht nur der
Kriegsvorbereitung in fremden Gegenden, sondern auch der eigenen
Rüstung, weil viele Rüstungsvorhaben sich ja erst im Stückpreis erst
„rechnen“, wie man so sagt, wenn man sie auch in die Welt exportiert.
Was ist über Krieg und Frieden und die Ostsee zu sagen? Wir Hamburger
denken, wenn wir „Ostsee“ hören, ja zunächst an Scharbeutz und an
Timmendorfer Strand, also an Urlaub und Freizeit. Die Militärs haben da
einen ganz anderen Blick. Flottillenadmiral Christian Bock, der
Kommandeur der Einsatzflottille 1 (Ostsee) der Deutschen Marine stellte
auf dem „Kiel International Seapower Symposion 2019″ fest:
Zitat:
Kein Gebiet Europas ist so stark militarisiert wie der Ostseeraum, wo sich auf engem Raum NATO und EU sowie Russland gegenüber stehen. Mit der Wiederbelebung der Landes- und Bündnisverteidigung steht der Ostseeraum u.a. als Verbindungsweg zu den östlichen NATO-Partnern für die Deutsche Marine wieder im Zentrum der maritimen Verteidigungsanstrengungen.[1]
Das mag stimmen: Es sind etwa 100 Schiffe verschiedener Größe der
Nato-Staaten und der Nato-Kooperationspartner Schweden und Finnlands auf
der einen Seite und 40 Schiffe Russlands auf der anderen Seite. Die
Ostsee ist fast ein Nato-Binnensee, gäb es dort nicht den militärisch
hochgerüsteten russischen Bezirk Kaliningrad.
Nach der ukrainischen Krise von 2014 hat die Nato beschlossen, Russland
wieder als möglichen militärischen Gegner zu sehen, „Abschreckung“ sei
das Gebot der Stunde. Russland soll insbesondere von einem Angriff auf
die baltischen Staaten abgehalten werden. Russland könne ethnische
Auseinandersetzungen in den baltischen Staaten zum Anlasse für einen
Angriff nehmen. Es gibt dafür zwar keine Anhaltspunkte, aber
Militärstrategen denken nicht mit Wahrscheinlichkeiten, sondern mit
Möglichkeiten. Und weil bekanntlich alles, was man sich denken kann,
auch möglich sein könnte, sind diese Strategen ganz realistisch und
nehmen irgendeine Möglichkeit als die wahrscheinliche Wirklichkeit.
Es begann nach 2014 eine Zeit intensiver Untersuchungen der
Sesselstrategen und der Generäle. Nach deren Studien wären die Russen in
wenige Tage durch die baltischen Staaten hindurch bis zur
Ostsee. Dagegen müsse etwas getan werden. Na gut, über so etwas
nachzudenken ist die Aufgabe von Militärs, wichtig ist natürlich, was
die Politik daraus macht.
Die baltischen Staaten sind Nato-Mitglieder. Aber die Nato könnte –
jetziger Stand – den baltischen Staaten nicht mit ausreichend großen
Truppen zur Hilfe kommen. Das hat zwei Gründe:
- Die rechtliche Lage. Der 2+4-Vertrag von 1990 zwischen der
Bundesrepublik und der DDR einerseits und den vier Siegermächten des
Zweiten Weltkriegs andererseits bestimmt, dass auf dem Gebiet der Ex-DDR
zwar Einheiten der Bundeswehr stationiert sein dürfen, die der Nato
zugehören, aber keine anderen ausländischen Truppen. Kasernen der
US-Army oder anderer Nato Staaten in Sachsen oder in
Mecklenburg-Vorpommern sind nach diesem Vertrag verboten. – Bekannter
ist, dass die Nato-Russland-Grundakte von 1997,
in der das damals schwache Russland, die Zusage der Nato enthält, in den
zukünftigen Nato-Staaten Polen, Litauen, Lettland und Estland, keine
„substantiellen Kampftruppen“ zu stationieren, während Russland
zustimmte, dass Infrastrukturen für Verstärkungen eingerichtet werden
können. – Die Nato kommt mit ihren Armeen nicht rechtzeitig in den
Baltikum und nach Polen, wenn dort Krieg anfangen sollte. -
Das russische Gebiet von Kaliningrad ist inzwischen als Ostseefestung
direkt am Knick der Ostsee von der Ost-West-Richtung nach Nord-Süd bis
hoch nach Finnland hoch zum Bottnischen Meerbusen weit aufgerüstet
worden. Mit Raketen von Typ Iskander, von denen gesagt wird, sie seien
atomwaffenfähig, und anderen Systemen kann Russland zum einen die Ostsee
bis hinüber nach Dänemark und Schweden für jeden Schiffs- und
Flugverkehr sperren und zum anderen die Marinen der westlichen Staaten
noch auf ihren Liegeplätzen und fast jedem anderen Punkt der Ostsee
zerstören.
Die Nato hätte also gar keine Möglichkeiten, ihren Verbündeten im
Baltikum rasch zur Hilfe zu kommen. Eine Studie der Baltischen
Militärakademie[2] ist deshalb zu dem Schluss gekommen, dass sich mit
Russland auf ein regionales Rüstungskontrollregime verständigen muss,
weil sie eh keine Chance hat. Aber das ist eine Minderheitenauffassung.
Stattdessen werden Szenarien eines Krieges um das Baltikum und die
Ostsee entworfen, bei denen es doch noch gelingen kann, Russland im
Osten der Ostsee zu besiegen.
Alle mir bekannten Szenarien sind sich darüber einig, dass Kaliningrad
gleich zu Beginn einer Auseinandersetzung, bei denen natürlich Russland
den Angreifer macht, ausgeschaltet werden muss.
- Die gröbste Variante macht das mit Atombomben. Die B-52-Bomber, die
Älteren hier auf dem Platz kennen sie noch von Weihnachtsbombardements
1972 auf Hanoi, über schon den um Kaliningrad herum. Weil die Russen
aber, wie man hört, leistungsfähige Flugabwehrraketen haben, entwickelt
man jetzt Atombomben, die mit Raketen vom B-52-Bomber abgeschossen
werden können. Vorteil dieser Lösung: Anschließend ist die Festung
Kaliningrad wirklich vernichtet, Nachteil: Bei Westwind wäre
anschließend Litauen vernichtet und nicht geschützt, bei Nordwind wäre
Polen verloren. So verrückt sind die allermeisten Militärs nun auch
nicht, dass sie so etwas auch nur als Zwischenresultat wollen. –
Übrigens lässt auch Russland seinen Atom-Bomber, die Tupolew,
regelmäßig über die Ostsee fliegen. -
Ein Strategieplaner aus der Deutschen Marine[3] deshalb auf die Idee,
den Krieg, den Russland eigentlich gar nicht haben will, so in die Länge
zu ziehen, dass die westlichen Flotten sich eines Nachts zusammen mit
amphibischen Truppen an Kaliningrad heranschleichen und es direkt an der
Küste von See her zusammen schießen. Die Russen würden schon nichts
machen, denn sie wollen ja keinen Krieg. Dieser Offizier will immerhin
einen Atomkrieg verhindern. Das ist schon mal was. Aber dass Russland
sich in einem Krieg mit der Nato freiwillig besiegen lässt, das sollte
man lieber nicht annehmen. -
Ein US-amerikanischer Planer sieht das alles viel nüchterner[4]: Wenn
die Nato in einem Krieg mit Russland im nördlichen Osteuropa bestehen
will, dann muss sie jetzt im Frieden die baltischen Staaten vollständig
durchmilitarisieren – lange Wehrpflicht, Sprengkammern an allen Brücken
– und ihre Präsenz in den baltischen Staaten und in Polen massiv
erhöhen. Er rechnet genau durch, welche polnischen und welche
US-amerikanischen Truppen in welchen Mengen gebraucht werden, um
Kaliningrad auf dem Landweg zu erobern. Im zweiten Gang muss dann so
viel Truppe aus Deutschland über Polen ins Baltikum kommen, dass
Russland dort geschlagen werden kann. Das Dumme an dieser
rabiat-kriegerischen Variante ist nur, dass die Nato-Russland-Grundakte
faktisch gekündigt werden muss, um Polen mit Nato-Truppen
vollzustopfen. Aber das kann man ja hinbekommen, die nächste
Ukraine-Krise könnte Anlass und Vorwand bieten. Die Benelux-Staaten,
Deutschland und Polen werden ja schon zu Rollbahnen für den Krieg mit
Russland umgebaut, Stichwort die Defender-Übungen.
Es ist der Beruf von Militärs, so etwas zu denken, zu planen und im
Zweifel auch durchzuführen. Aber es ist die Aufgabe der Politik, dafür
zu sorgen, dass gar nicht erst die Notwendigkeit dazu besteht.
Wenn wir von Krieg und Kriegsvorbereitung reden, dann sollten wir also
natürlich von Rüstungsexporten in vielleicht entfernte Länder reden,
aber auch von Krieg und Kriegsvorbereitung hier unmittelbar bei uns und
bei unseren Nachbarn. Es ist alles öffentlich bekannt. Aber es wird
nicht zur Kenntnis genommen. Wir selbst sind in Gefahr.
—
https://friedenslage.blogspot.com/
Fußnote(n)
[1] „Kiel International Seapower Symposion 2019″, nach MarineForum 9/19
[2] https://www.academia.edu/40876475/Kaliningrad_the_Suwalki_Gap_and_Russia_s_Ambitions_in_the_Baltic_Region
[3] https://friedenslage.blogspot.com/2021/01/friedenslage-10012021-1947.html, „Clausewitz, Corbett und Corvetten — Great Power Competition durch die Augen eines Meliers“ von Sascha H. Rackwitz, Stabschef und stellv. Kommandeur der Ostseeflottille der Deutschen Marine, Marineforum 1 / 21
[4] https://friedenslage.blogspot.com/2021/03/friedenslage-am-23032021-192714.html, https://jamestown.org/wp-content/uploads/2019/10/How-to-Defend-the-Baltic-States-full-web4.pdf