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Deutschlandfunk
„Aussagen der SPD sind grob fahrlässig“ 04.05.2020
Otte (CDU) zur Debatte über Atomwaffen „Aussagen der SPD sind grob fahrlässig“
Solange andere Nationen über Atomwaffen verfügten, „die sie gegen uns einsetzen könnten, müssen wir Teil einer Abschreckungsstrategie sein“, sagte der verteidigungspolitische Sprecher der CDU, Henning Otte im Dlf. Die nukleare Teilhabe garantiere Deutschlands Sicherheit unter dem NATO-Schutzschirm.
Henning Otte im Gespräch mit Mario Dobovisek
Tief in der Eifel liegt ein Fliegerhorst. Stationiert sind dort Tornado-Kampfflugzeuge, die jederzeit bereit sind, die dort ebenfalls lagernden Atombomben abzuwerfen. Die Flugzeuge gehören der Bundeswehr, also Deutschland, die Bomben gehören den USA und die Zusammenarbeit ist Ergebnis der sogenannten Nuklearen Teilhabe – ein Grundpfeiler der NATO, der Abschreckung eines Feindes im Osten, um genau zu sein, zu Zeiten des Kalten Krieges der Sowjetunion. Doch die Zeiten ändern sich. Aus Feinden werden vielleicht noch lange keine Freunde, aber sagen wir Mitbewerber. Und dennoch: Der atomare Abwehrschild bleibt auf beiden Seiten wichtige Abschreckungskulisse.
Die Tornados kommen allmählich in die Jahre und sollen durch neue Flugzeuge ersetzt werden. So plant es Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Das nimmt die SPD-Spitze zum Anlass, die deutsche Beteiligun g an der nuklearen Teilhabe generell in Frage zu stellen. So sagt etwa SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich im „Tagesspiegel“, Atomwaffen auf deutschem Gebiet erhöhten unsere Sicherheit nicht.Im Gegenteil: Es werde Zeit, dass Deutschland die Stationierung zukünftig ausschließe. Rückendeckung gibt es dafür unter anderem von SPD-Co-Chef Norbert Walter-Borjans. Der verteidigungspolitische Sprecher der Unions-Fraktion im Bundestag, Henning Otte, sieht das anders.
„Das System basiert auf Dialog und Abschreckung“
Mario Dobovisek: Aus der Union haben wir am Wochenende ein starkes Stirnrunzeln vernommen. Warum lehnen Sie eine solche Debatte kategorisch ab?
Henning Otte: Weil die Aussagen unseres Koalitionspartners, der SPD, hier grob fahrlässig sind. Die nukleare Teilhabe ist ein wichtiger Baustein für unsere Sicherheitsarchitektur und garantiert uns die Sicherheit unter dem NATO-Schutzschirm.
Dobovisek: Aber was ist daran grob fahrlässig, zumindest einmal offen zu debattieren?
Otte: Weil wir eine Teilhabe brauchen. Das System basiert auf Dialog und Abschreckung und solange es andere Staaten gibt, außerhalb der NATO, die solche Waffen einsetzen könnten, müssen wir im Rahmen der Abschreckung gegenhalten. Ich verweise auf das russische Vorgehen, das zur Kündigung des INF-Vertrages geführt hat. Das heißt, Russland stationiert Mittelstrecken-Nuklearwaffen.
Kommentar: Experten kommen zu dem Schluss, dass die „Nukleare Teilhabe“ militärisch bedeutungslos ist[Fußnote 1]. Den Fall eines russischen Angriffs auf die baltischen Staaten vorausgesetzt, ist fraglich, ob die Bomberflugzeuge überhaupt bis zum Baltikum durchkommen und nicht vorher von der russischen Flugabwehr abgeschossen worden sind. Die vorgesehen F-18 Flugzeuge sind nur eingeschränkt gegen Radar geschützt[Fußnote 2]. Und wenn sie dann das Baltikum erreicht haben sollten, gibt es nach einem erfolgreichen Abwurf von Bomben die baltischen Staaten auch nicht mehr, denn die Siedlungen gehen im Feuer unter und die Landschaft ist auf Jahrhunderte verstrahlt und unbewohnbar.
Die Nato-Staats- und Regierungschefs haben auf ihrer Tagung Warschau 2016 beschlossen, offen für einen Dialog mit Russland zu sein[Fußnote 3]. Jedoch hat es in den vergangene vier Jahren keine offiziellen Dialogangebote der Nato an Russland gegeben. Dabei gäbe es schon im Rahmen der Nato-Russland-Grundakte von 1997 genug Themen und Formate, beispielsweise die Aufrüstung in der Ostsee und die Schiffs- und Flugsicherheit dort[Fußnote 4]. Es wäre möglich gewesen, über die von den USA behauptete Verletzung des INF-Vertrags mit Russland zu sprechen: Russland hatte angeboten, die von den USA beanstandeten Systeme von US-Experten vor Ort inspizieren zu lassen[Fußnote 5]. Die USA haben das abgelehnt, die Nato unterstützte dieses Vorgehen der USA. So gibt es bis heute keinen öffentlich Beleg für die Richtigkeit der Behauptungen der USA. Das muss man glauben oder man lässt es sein.
Dobovisek: Ist Russland der Feind?
Otte: Russland ist ein Player auf dem Globus. Wir haben intensive und gute Verbindungen zu Russland gehabt und führen sie auch weiterhin und führen einen intensiven Dialog. Aber wir stellen fest, dass beispielsweise neue Stationierungen eine zusätzliche Bedrohung sind, und solange es solches gibt, müssen auch wir solche Waffen haben. Ziel bleibt es, eine atomfreie Welt zu erreichen.
Kommentar: Man trifft sich sicher mit russischen Politikern auf vielen Feldern und in vielen Formaten. Nur ist keine Strategie erkennbar, Russland „offizielle“ Angebote zu machen, über verschiedene Themen zu reden, um zu Übereinkommen zu gelangen. – Die von Otte behaupteten zusätzlichen Stationierungen sind bislang nur „Behauptungen“.
„Wir sind eine Gemeinschaft, die auf Solidarität aufbaut“
Dobovisek: Rolf Mützenich von der SPD verweist auch auf US-Präsident Donald Trump. Seine Regierung habe verkündet, dass Atomwaffen nicht mehr nur der Abschreckung dienten, sondern Waffen seien, mit denen man Kriege führen könne. Wollen Sie das, Herr Otte, dass eines Tages auch wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen könnte, wo wir dieser Tage an die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht vor 75 Jahren erinnern?
Otte: Wir setzen uns ja vehement für den Frieden ein und sagen, wir sind Teil eines Wertebündnisses, nämlich der NATO. Nicht die USA dominieren, sondern wir sind eine Gemeinschaft, die auf Solidarität aufbaut, und wir garantieren uns gegenseitig Verteidigung. Darum geht es, dass wir deutlich machen, wir sind Teil eines Bündnisses und profitieren von diesem Bündnis und stellen dafür auch unsere Fähigkeiten zur Verfügung.
Kommentar: Mützenich, promovierter Experte in Sachen Atomrüstung, bezieht sich auf US-Pläne für Mini-Atombomben als Waffen auf dem Schlachtfeld[Fußnote 6]. Diesen alles umstürzenden Aspekt nimmt Otte nicht auf.
Dobovisek: Wieviel Kontrolle bleibt da Deutschland über die US-Waffen?
Otte: Es bleibt eine erhebliche Kontrolle, weil wir hier im NATO-Rat Entscheidungen treffen. Ich verweise mal auf den NATO-Gipfel 2012 in Chicago . Dort wurde auch noch mal deutlich gesagt, wir wollen „global zero“, wir wollen die Abrüstungsgespräche. Aber Deutschland verfügt nicht über eigene Waffen, sondern stellt nur Trägersysteme zur Verfügung, und diese Trägersysteme sind in die Jahre gekommen und haben bald ausgedient.
Kommentar: Dieser Ansage der Nato folgte: Nichts. Sie hat obendrein mit der Frage, ob Deutschland Kontrolle über US-Waffen habe, nichts zu tun. Man muss es vielmehr für möglich halten, dass der Einfluss Deutschlands auf die Nuklearstrategie der Nato bei knapp über Null liegt. Ein deutsches Vetorecht scheint es jedenfalls nicht zu geben[Fußnote 7]. Auch hier muss man glauben, was gesagt wird, oder man lässt es bleiben.
Dobovisek: Ist denn Donald Trump, sind die USA ein verlässlicher Partner in der Weltpolitik?
Otte: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein verlässlicher Partner. Wir arbeiten sehr eng zusammen. Daran ändert auch die Sprunghaftigkeit des amtierenden Präsidenten Trump nichts.
„US-Kampfflugzeuge sind lediglich eine Brückentechnologie“
Dobovisek: Warum nicht?
Otte: Weil wir in den Bündnissen fest verankert sind, eine Gemeinschaft sind, auf eine Tradition aufbauen und auch einmal deutlich sagen, beispielsweise die jetzt zu beschaffenden US-Kampfflugzeuge sind lediglich eine Brückentechnologie. Wir wollen in Europa ein eigenes System zusammen mit Frankreich und anderen Staaten entwickeln.
Kommentar: Deutschland und Frankreich haben sich in der Tat entschlossen, gemeinsam ein Luftwaffensystem zu entwickeln, das mehr als Flugzeuge umfasst[Fußnote 8]. Es ist jedoch sehr die Frage, ob mit diesen Flugzeugen dann erneuerte US-Atombomben vom Typ B61-12 geflogen werden können. Zum einen werden die Franzosen nicht damit einverstanden sein, im Rahmen der Zertifizierung dieser Flugzeuge als Träger für B61-Atombomben durch die USA den Amerikanern alle Geheimnisse dieses Flugzeugs mitzuteilen. Zum anderen stehen diese Flugzeuge dann eben doch nicht wie die F-18 oder die ebenfalls anvisierten F-35-Flugzeuge unter US-Kontrolle. – Die Antwort Ottes hat nur Sinn, wenn geplant ist – eher: gehofft wird –, dass Deutschland sich irgendwie an der französischen Atombombe beteiligen kann[Fußnote 9]. Präsident Macron hat dieses immer wieder aus Deutschland vorgetragene Ansinnen kürzlich wieder zurückgewiesen[Fußnote 10].
Dobovisek: Jetzt nennen Sie das Brückentechnologie. Die Tornados haben knapp 40 Jahre gehalten, müssen auch noch weiter halten, bis diese Brückentechnologie da ist. Wenn wir uns diese Zahlen angucken, wird dann diese Brücke und damit auch ein Debattenverbot die nächsten 40 Jahre andauern?
Otte: Debattenverbote gibt es ohnehin nicht.
Dobovisek: Klang aber eben so, Herr Otte.
Otte: Nein, nein. Die Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hat eine Richtungsentscheidung vorgegeben, 45 US-Systeme zu erwerben und zeitgleich 93 Eurofighter neu zu beschaffen. Ich verweise noch mal auf unser Ziel, nämlich ein europäisches System zu entwickeln, um die europäische Säule innerhalb der NATO noch einmal zu stärken.
Kommentar: Es gibt diese Pläne für eine europäisches System der „Nuklearen Teilhabe“ nicht. Es gäbe auch niemanden, der mitmachen würde, weder Groß-Britannien noch Frankreich.
„Deutschland bekennt sich auch zur nuklearen Teilhabe“
Kommentar: Wie ist es zur „Nuklearen Teilhabe“ gekommen?
Bei ihrem Treffen in Camp David 1959 hatten Eisenhower und Chruschtschow beschlossen, ihren jeweiligen Verbündeten keine Atomwaffen zur Verfügung zu stellen, die USA nicht den Deutschen und die UdSSR nicht den Chinesen[Fußnote 11].
Adenauer hatte 1957 damit gedroht, die Nato platzen zu lassen, wenn die Bundeswehr keine (eigenen!) Atomwaffen bekommt[Fußnote 12]. Die Führung der Bundeswehr forderte 1960 die Ausrüstung der Bw mit (eigenen!) Atomwaffen[Fußnote 13]. Weil die USA das nicht wollten, lancierte sie die Idee einer Nato als multilateraler, integrierter Vierter Atommacht. Der damalige Minister Strauß verlangte Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrecht über Regeln der Lagerung, der Freigabe und des Einsatzes von A-Waffen[Fußnote 14]. Die anderen Nato-Staaten lehnten durch die Bank ab. Die MLF scheiterte, schlicht, weil die anderen Nato-Staaten Deutschland nicht trauten. Das Projekt wurde endgültig abgeblasen. Wesentlich dafür war neben der Konkurrenz in der Nato die scharfe Ablehnung durch die Sowjetunion. PM Harold Wilson im 23.11.64 im Unterhaus[Fußnote 15]:
„Das ist die Frage, ob eine gemischt bemannte (atomar bewaffnete; HL) Überwasserflotte dazu führt, dass Deutschland einen Finger an den Abzug | bekommt. Der [jetzige] Außenminister und ich haben bei unserem diesjährigen Besuch in Moskau versucht, die sowjetische Befürchtung Befürchtung zu zerstreue, das der Vorschlag in seiner jetzigen Form tatsächlich bedeute, dass Deutschland einen Finger an den Abzug bekommt. … Ich hatte schon immer den Verdacht, das die sowjetischen Befürchtungen sich nicht so sehr auf auf den gegenwärtigen Vorschlag beziehen als vielmehr auf – gelegentlich erörterte – Möglichkeit, dass das amerikanische Veto durch ein System der Mehrheitsentscheidungen ersetzt werden könnte, bei dem es möglich würde, einen amerikanischen Widerstand gegen einen Einsatz der Bombe zu überstimmen. Ein solche Möglichkeit lehnen wir unwiderruflich ab.“
Mit anderen Worten: Großbritannien akzeptierte ein Veto-Recht der UdSSR gegen jede deutsche Verfügung oder auch nur irgendwie relevante Mitsprache-Beteiligung in Sachen A-Waffen, wie die USA es im Kern schon vorher gemacht hatten und danach wieder machten. Sie stellten jede Arbeit an diesem Projekt ab 1964 ein[Fußnote 16]. Aber man konnte Deutschland nicht hängen lassen, zu sehr hatte es sich aus dem Fenster gelehnt. Man schuf die „Nukleare Teilhabe“ als Simulation von Teilhabe.
Die UdSSR akzeptierte die Nukleare Teilhabe, anders als das MLF-Projekt, auch beim Nichtverbreitungsvertrag und beim 2+4-Vertrag, weil sie die Bedeutungslosigkeit der Nuklearen Teilhabe unterstellte.
Wenn eine deutsche Regierung jetzt dennoch daran festhalten sollte, kann es nur den Sinn haben, aus dieser Teilhabe doch noch irgendwann mal was machen zu wollen, nachdem man es statt der UdSSR mit dem schwächeren Russland zu tun, dafür sprechen die immer wieder auftauchenden Diskussionen über strategische Souveränität, die nun mal ohne irgendeine Verfügung über Atomwaffen, gemeinsam mit den oder anstelle der USA, zusammen mit Frankreich oder wie auch immer, nicht zu haben ist. Man will behalten, um mal mehr zu bekommen, als man jetzt hat.
Dobovisek: Jetzt lehnt SPD-Chef Norbert Walter-Borjans es kategorisch ab, Nachfolger für Kampfflugzeuge zu beschaffen, die für den Einsatz als Atombomber vorgesehen sind. Wie jetzt weiter, Herr Otte, gemeinsam mit Ihrem Koalitionspartner?
Otte: Die bisherigen Entscheidungen sind im Kabinett getroffen und auch im Parlament besteht dort Einigkeit. Ich halte die Aussagen hier für grob fahrlässig. Allein in der Tradition von Helmut Schmidt geht es darum, …
Dobovisek: Da ruft die SPD wahrscheinlich gerade schon an!
Otte: Die hören hoffentlich zu und nehmen die Argumente ernst. Allein in der Tradition von Helmut Schmidt bekennt sich Deutschland auch zur nuklearen Teilhabe. Dies ist im Weißbuch noch mal deutlich dargestellt worden, im Koalitionsvertrag. Solange andere Nationen Waffen haben, die sie gegen uns einsetzen könnten, müssen auch wir Teil einer Abschreckungsstrategie sein.
Dobovisek: Die nukleare Teilhabe, diese Abschreckung ist ein wichtiger Pfeil er im Konstrukt der NATO. Wie ist es denn insgesamt um ein Verteidigungsbündnis bestellt, das aus Washington immer wieder in Frage gestellt wurde und sich auf Partner wie die Türkei verlassen muss, die sich offen auch gen Moskau orientieren?
Kommentar: Wenn die „Nukleare Teilhabe“ militärisch bedeutungslos ist, wie kann sie dann politisch bedeutsam sein? Wie kann ein Nichts ein Alles werden, wenn man das Adjektiv davor ändert?
Otte: Sie stellen zurecht dar, dass es Diskussionsprozesse gibt, dass es auch darum geht, deutlich zu machen, wir sind ein Wertebündnis, wir sind ein Verteidigungsbündnis, wir sind eine Solidaritätsgemeinschaft, und hier ist jeder aufgerufen, seinen Beitrag zu geben und sich auch einzubringen. Da sind mit Erdogan und Trump natürlich zurzeit zwei Amtsinhaber, die Teil dieser Gemeinschaft sind, wo wir immer darauf hinweisen müssen, es gibt hier einen klaren Kompass in der NATO, Dialog und Abschreckung. Wir stehen füreinander da und darauf setzen insbesondere auch die osteuropäischen NATO-Partner.
„NATO ist das erfolgreichste Verteidigungsbündnis auf dieser Erde“
Dobovisek: Müssen wir da, um ehrlich zu sein , nicht nur über die Atomfrage reden, sondern auch über die Zukunftsfrage der NATO insgesamt?
Otte: Wir müssen immer in die Zukunft blicken und uns jederzeit auch mal in Frage stellen. Aber bisher ist die NATO das erfolgreichste Verteidigungsbündnis auf dieser Erde und wir haben ja auch in Aussicht gestellt, über die NATO noch einmal dahingehend zu diskutieren, was können wir besser machen, wie können wir sie effektiver machen, haben wir einen 360-Grad-Schutzschirm abgedeckt un d sind alle Fähigkeiten, die zugesagt sind, auch zur Verfügung.
Kommentar: Schaut man auf die ruhmreichen militärischen Taten von Nato-Staaten in den letzten 20 Jahren (/Ironie off), wird man schwerlich von einem Verteidigungsbündnis sprechen können. Es sein denn, man meint schon schizophren, dass zwar einzelne Mitgliedsstaaten der Nato völkerrechtswidrig andere Staaten überfallen haben[Fußnote 17], die Nato insgesamt aber damit ihren Charakter nicht verändert habe.
Dobovisek: Hat die NATO eine langfristige Zukunft?
Otte: Auf jeden Fall. Davon bin ich überzeugt. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Wir haben Frieden in Europa, wir haben Frieden in Deutschland, und das ist insbesondere auch unserem NATO-Bündnis zu verdanken.
Kommentar: Gegenwärtig ist die Nato durch zwei Entwicklungen bestimmt: Politisch muss sie ihre Ziele klären. Sie hat bislang keine gemeinsame Dialog-Strategie gegenüber Russland bestimmt, anders als sie auf dem Nato-Gipfel 2016 beschlossen hatte. Der französische Präsident Macron sucht einen Weg des Dialogs mit Russland, die USA, Polen und auch Deutschland lehnen das entweder ab und tun einfach nichts. Es ist nicht zu sehen, dass sich die Nato bewegt, insofern hat Macron recht: Die Nato ist (momentan) politisch tot.
Anders sieht es im militärische Bereich aus: Deutschland hat den USA brav und artig bei der US-Übung – keine Nato-Veranstaltung! – „Defender Europe 2020“ assistiert, bei der die USA die Verlegung von 37000 Soldaten an die polnische und baltische Ostgrenze übten, bis Corona zum Abbruch führte. Deutschland wird beim nächsten Mal genauso brav mitmachen, obwohl auch diese Übung militärisch sinnlos ist: Sollte, wie unterstellt, Russland in einen baltischen Staat einmarschieren, brauchen US-Truppen in jedem Fall ein halbes Jahr, bis sie dort sind[Fußnote 18], Defender20 zeigt also eine Operation mit Abschreckungswirkung Null, es sei denn, es soll die Kündigung der Nato-Russland-Grundakte von 1997 vorbereitet werden. In weiterer Zukunft ist es eine weltweite Nato-Marine-Kooperation möglich. Die USA, Frankreich und Großbritannien marschieren im Pazifik vor China auf und Deutschland, jedenfalls die Verteidigungsministerin, die mal einen Flugzeugträger[Fußnote 19] haben wollte. Aber die zukünftigen Großkriegsschiffe MKS 180[Fußnote 20] tun es ja auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[Fußnote 1] Otfried Nassauers Beitrag in https://www.ndr.de/nachrichten/info/sendungen/streitkraefte_und_strategien/streitkraeftesendemanuskript782.pdf,Podcast „Sicherheitshalber“, dort der erste Teil https://augengeradeaus.net/2020/05/sicherheitshalber-der-podcast-folge-27-nukleare-teilhabe/
[Fußnote 2] How stealthy is Boeing’s new Super Hornet?, https://www.defensenews.com/digital-show-dailies/navy-league/2018/04/09/how-stealthy-is-boeings-new-super-hornet/
[Fußnote 3] Punkt 11 in Gipfelerklärung von Warschau, Treffen des Nordatlantikrats auf Ebene der Staats- und Regierungschefs in Warschau, Warschau, 8. und 9. Juli 2016 https://nato.diplo.de/blob/2203104/4026ac9587ebb387bd578a9b74fd91f2/erklaerung-der-staats–und-regierungschefs-2016-warschau-data.pdf,
[Fußnote 4] Siehe dazu Leps, Horst: Aufrüstung in der Ostsee, https://ostsee-aufruestung.blogspot.com/2020/04/zur-aufrustung-in-der-ostsee.html
[Fußnote 5] INF-Vertrag USA verpassen Chance für Abrüstung, https://www.spiegel.de/politik/ausland/inf-vertrag-usa-verpassen-chance-fuer-abruestung-a-1248975.html
[Fußnote 6] Amerikanische Pläne mit „kleinen“ Atombomben, https://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/mini-nukes-amerika-will-mehr-kleine-atombomben-15430483.html
[Fußnote 7] Bundespressekonferenz 04.05.2020: „FRAGE: Hat Deutschland durch seine Teilhabe ein Vetorecht in der nuklearen Planungsgruppe?“ – „BURGER: Klar ist, dass wir durch die nukleare Teilhabe in die strategische Diskussion und in Planungsprozesse einbezogen sind.“ Burger ist Sprecher des Auswärtigen Amtes in der Bundespressekonferenz https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2338738
[Fußnote 8] Der neue deutsch-französische Super-Kampfjet soll zum Alptraum für Radaranlagen werden, https://www.focus.de/politik/deutschland/100-milliarden-euro-projekt-eurofighter-nachfolger-das-wird-europas-neuer-super-kampfjet_id_10839587.html;77,5 Millionen Euro für deutsch-französisches Kampfflugzeug, https://www.rnd.de/politik/775-millionen-euro-fur-deutsch-franzosisches-kampfflugzeug-GNL2YO64ZVB4LAVSDAE3SWZMNU.html
[Fußnote 9] Aber vermutlich ist sie nur undurchdacht. – Interview mit Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul „Wir sollten uns an nuklearer Abschreckung beteiligen“, https://www.tagesspiegel.de/politik/interview-mit-unions-fraktionsvize-johann-wadephul-wir-sollten-uns-an-nuklearer-abschreckung-beteiligen/25500266.html
[Fußnote 10] Rede des französischen Staatspräsidenten zur Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie, https://de.ambafrance.org/Rede-des-franzosischen-Staatsprasidenten-zur-Verteidigungs-und
[Fußnote 11] ***: Non-Proliferation oder die Verhinderung der Ausbreitung von Kernwaffen, in: Vereinte Nationen, Bonn, 6/1963, nach: Kahn, Helmut Wolfgang, Der Kalte Krieg Bd2, Pahl-Rugenstein, 1987, 113ff.
[Fußnote 12] Rede des Bundeskanzlers Konrad Adenauer vor dem Bundesparteivorstand der CDU in Hamburg, in: Schubert, Klaus v.: Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Teil II, S. 200f, hier S. 203
[Fußnote 13] Stellungnahme der Bundeswehrführung zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr, in: Schubert, S. 206
[Fußnote 14] Strauß, FJ: Rede im Bayerischen Rundfunk 20.12.1961, in: Schubert, S. 209
[Fußnote 15] Harold Wilson, in: Schubert S. 227
[Fußnote 16] Kahn, S. 274
[Fußnote 17] Allerdings war der völkerrechtswidrige Angriffskrieg von 1999 gegen Jugoslawien ein Nato-Krieg.
[Fußnote 18]https://friedenslage.blogspot.com/2020/03/friedenslage-am-31032020-161823.html nach https://icds.ee/wp-content/uploads/2020/03/ICDS_Report_Until_Something_Moves_Hodges_Lawrence_Wojcik_April_2020_cor.pdf
[Fußnote 19] Ein europäischer Flugzeugträger? Merkel und AKK wären bereit, https://www.focus.de/politik/deutschland/finde-ich-richtig-und-gut-ein-europaeischer-flugzeugtraeger-merkel-und-akk-waeren-bereit_id_10440812.html
[Fußnote 20] Erklärstück: Das Mehrzweckkampfschiff 180, https://www.bundeswehr.de/de/organisation/marine/aktuelles/erklaerstueck-mks-180, Stück bislang eine Milliarde Euro, wird schon noch mehr werden;-((.